TEXT: KATJA BEHRENS
Immer schon wird seinen Bildern die motivische Nähe zu Claude Monet vorgeworfen: die Heuhaufen und Mohnfelder, Pappeln und Felsen, Kirchen und Flüsse. Alles scheint irgendwie von dem französischen Malerkollegen inspiriert – und selbst heute fällt es mitunter ein bisschen schwer, die Gemälde Sisleys zu betrachten, ohne gleich an den Garten von Giverny oder die Kathedrale von Rouen zu denken. Zu tief sind diese Monetbilder im kollektiven Bildgedächtnis verankert und auf der Impressionismus-Festplatte gespeichert. Jetzt bietet die Ausstellung »Alfred Sisley. Der wahre Impressionist« im Von der Heydt-Museum Wuppertal – Fortsetzung der Ausstellungsreihe zur französischen Malerei des 19. Jahrhunderts – Gelegenheit, diese Sicht auf den Maler, der als Sohn britischer Kaufleute in Paris zur Welt kam, zu revidieren. Oder zumindest zu erweitern.
1857 in London, als er etwas unlustig bei seinem Onkel eine Kaufmannslehre macht, lernt Alfred Sisley (1839-1899) in der National Gallery das Werk von William Turner und John Constable kennen. Die Landschafts- und Wolkenstudien der britischen Maler hinterlassen einen tiefen Eindruck, er bewundert die malerisch radikale Auflösung des Gegenstands und die freie Farbbehandlung. Und er ist fasziniert von der Idee und dem Konzept des Künstlers. Der junge Alfred beschließt, sein Steckenpferd zur Profession zu machen: Er wird Maler. Als er dann von 1860 bis 1863 im Pariser Atelier des Schweizer Malers Charles Gleyre studiert, begegnet er Claude Monet, Auguste Renoir und anderen, die an ähnlichen malerischen Problemen arbeiten, aber die Kunst Turners und Constables noch gar nicht von eigenem Ansehen kennen. So kommt Sisley in dieser frühen Phase eine Art Vermittlerrolle zu, die bislang unterbewertet oder gar nicht wahrgenommen wird. Wahrscheinlich war er es nämlich, der die französischen Freunde überhaupt erst mit den englischen Landschaftsmalern bekannt machte, indem er diese zu seinen Vorbildern erkor.
Zum Malen zieht Sisley, Sohn aus gutem Hause, mit den neuen Künstlerfreunden in den Wald von Barbizon, wo ab 1865 nur noch unter freiem Himmel gemalt wird. Das Leben und die Natur sind der Maßstab. Zeigen die Bilder anfangs noch die dichten dunklen Farben der vorangehenden Zeit, so werden die Pinselstriche bald sichtlich lockerer und freier. Der Impressionismus kündigt sich an. Die klassische Figurenmalerei mitsamt ihrem verlogenen Pathos soll, so lautete schon das Credo der Realisten um Courbet, abgelöst werden von einer Kunst, die sich stärker dem wirklichen Leben verschreibt, seinen sozialen Bedingungen und besonders seinen visuellen Phänomenen. Kein Wunder, dass die jungen Künstler immer wieder vom offiziellen Pariser Salon zurückgewiesen werden.
Die Sisleys leben schon ab 1869 auf dem Land, erst in die Nähe der Hauptstadt, dann etwas weiter weg in Barbizon und letztendlich in Moret-sur-Loing. Bis 1870/71 können sie es sich leisten, dass Alfreds Bilder ein ums andere Mal vom Salon abgelehnt werden und er auch sonst keinen nennenswerten Erfolg hat. Er ist sogar in der Lage, seinen damals noch wenig bekannten mittellosen Künstlerkollegen Monet und Renoir unter die Arme greifen – bis der Bankrott des väterlichen Geschäfts infolge des preußisch-französischen Krieges dem süßen Leben ein jähes Ende bereitet. Von nun an ist Alfred Sisley nicht mehr der belächelte malende Privatier, sondern einer jener Künstler, die in trostloser Armut ihr Leben fristen und dennoch besessen weitermalen: die Verkörperung des bis heute lebendigen Klischees vom unerkannten Künstlergenie schlechthin.
Anders als seine Kollegen aber versuchte sich Sisley auch jetzt nicht als Maler des modernen Lebens. Keine Cafés und kein Tanz, keine flanierenden Müßiggänger und keine luxuriösen Stillleben, dafür Licht und Luft im mittleren Format. Die wechselhaften Erscheinungen einer vorüber ziehenden Welt: ein »Weg nach dem Regen, hohe Bäume, von denen das Regenwasser herabtropft, nasse Pflastersteine, Pfützen, in denen sich der Himmel spiegelt«. Stéphane Mallarmé ist einer der wenigen, die die besondere Qualität in Sisleys Werk damals überhaupt wahrnehmen. »Er hält die flüchtigen Momente des Tages fest, er beobachtet eine Wolke und malt, wie sie vorüber fliegt. Auf seiner Leinwand spürt man den Lufthauch noch, und die Blätter bewegen sich leicht im Wind«, schreibt der symbolistische Dichter 1876 über Alfred Sisley. Die meisten Zeitgenossen aber übersehen den Anteil, den Sisleys Bilder an der Entwicklung des Impressionismus haben. Monet und Kollegen werden bald immer erfolgreicher, das stille Werk des zurückhaltenden, schüchternen Sisley, der jedes Bild beim Himmel beginnt, wird erst nach dessen Tod die Anerkennung erfahren, die es verdient.
Die Wuppertaler Ausstellung versammelt rund 80 Gemälde, von denen keines größer als ein Quadratmeter ist. Im Vergleich mit den späten Riesen-Tableaus von Claude Monet, die vor zwei Jahren in Wuppertal ausgestellt waren, sind die Gemälde Sisleys bescheidener, privater, intimer. Die schiere Größe und selbstbewusste Präsenz lässt den Bildern Monets eine künstlerische Autorität zuwachsen, die sich schon zu dessen Lebzeiten auszahlen sollte und immer noch wirkt. Die in seiner Malerei spürbare Offenheit und sein Temperament sind wohl auch den Zeitgenossen näher gewesen und irgendwie aufregender erschienen.
Bei näherer Betrachtung der Bilder allerdings zeigt sich Sisleys Malerei als durchaus raffiniert. Neben der Differenziertheit seines Pinselstrichs und der geometrischen Bildorganisation ist der in manchen Bildern fast verwegene Einsatz der Farbe bemerkenswert. Da kann ein gesamter Fluss aus Rosa, Grün und Blau bestehen (»Seine bei Grenelle«, 1881, Denver Art Museum), ein Himmel aus Grün, Rosa und Weiß. Als Sisley 1872 in die Nähe von Louveciennes zieht, beschäftigen ihn in einer Serie von Schneelandschaften einen ganzen Winter lang die verschiedenen Abstufungen von Weiß. Die gedämpfte Farbigkeit taucht die Bilder in eine Stimmung, als wäre die Leinwand selbst bedeckt mit Schnee. 1876, als er diese Stu-dien wieder aufgreift und an der zweiten Impressionistenausstellung teilnimmt, ist der Dichter Emile Zola begeistert von dem »hochtalentierten Landschaftsmaler«, der »seine Bilder (…) großflächig angelegt und in sehr feinen Farbtönen gemalt« hat. Weiterhin aber erntet er meist niederschmetternde Kritiken.
Die Wuppertaler Werkschau möchte Sisley nun als den »wahren Impressionisten« rehabilitieren, als denjenigen, der der impressionistischen Landschaft Zeit seines Lebens treu geblieben ist. Zu sehen sind erstaunlich moderne Werke wie der »Sonnenuntergang bei Moret« von 1892 aus der Sammlung Würth, dessen Abstraktionsgrad an die frühen Baumstudien von Piet Mondrian erinnert. Oder das Bild »Sommer in Saint-Martin – Die Umgebung von Moret« (1891, Saint Jean Cap Ferrat), eine pastellfarbene Landschaft in Quietschrosa, hellem Taubenblau, wenig hellem Grün und noch weniger dunklem Rot, deren expressive Pinselstriche im Fluss den weiteren Gang der Kunst ahnen lassen.
Der stille Maler Alfred Sisley aber wird vermutlich auch weiterhin in der zweiten Reihe tanzen. Schade, die Sympathien sind schon seit hundert Jahren vergeben, die Urteile gefällt. Daran wird wohl auch diese Ausstellung kaum etwas ändern. Zu laut und zu groß ist die Konkurrenz. Der tragische Impressionist, der seine langjährige Freundin und Mutter der beiden gemeinsamen Kinder einige Monate vor ihrem Krebstod heiratete, wird wohl tragisch bleiben. Kurz nach ihr, im Januar 1899, verstarb auch er. Seinen Kollegen hingegen blieb viel Zeit, bis ins hohe Alter an der eigenen Karriere zu arbeiten.
Bis 29. Januar 2012. Katalog 25 €. Tel.: 0202/563-6231. www.von-der-heydt-museum.de