Nein, sagt David Schraven, eine Graphic Novel sei das eigentlich nicht. Sondern eine grafische Reportage. »Der große Unterschied ist, dass die Handlungen nicht erfunden sind, sondern es ist tatsächlich so passiert. Nichts ist ausgedacht.« Warum dann die grafische Form? »Wenn ich ein Sachbuch mache, erreiche ich immer die gleichen Leute. Ich mache die Katholiken katholischer. Aber ich möchte auch an die Leute herankommen, die evangelisch sind. Also die, die sich bisher noch nie mit so einem Thema beschäftigt haben.«
Es ist ein brisantes Thema – 4. April 2006, Dortmunder Nordstadt. Mehmet
Kubasik wird in seinem Kiosk in der Mallinckrodtstraße erschossen. Fünf Kugeln treffen ihn in Kopf und Herz. Die Polizei ermittelt in die falsche Richtung und geht von Auseinandersetzungen gewalttätiger Migranten-gruppen aus. Den Medien fällt nichts Besseres ein, als den Anschlag unter dem Begriff »Dönermord« zu verharmlosen. Fünf Jahre später, im November 2011, erschießen sich in Eisenach die Neo-Nazis Uwe Mundlos und Uwe Bönhardt in ihrem Wohnmobil, das danach in Flammen aufgeht. Auf das Konto der beiden Mörder geht nicht nur der Mordanschlag auf Mehmet Kubasik, sondern auch ein Anschlag auf einen Kölner Lebensmittelladen (2001) und eine in der Kölner Keupstraße gezündete Nagelbombe (2004). Nach dem Selbstmord der beiden sprengt das NSU-Mitglied Beate Zschäpe, ihre gemeinsame Freundin, die Wohnung in die Luft, um Beweise zu vernichten. Zu diesem Zeitpunkt beginnt Schraven zu recherchieren und fragt sich, warum irgendwer aus dem Thüringer Wald ausgerechnet nach Dortmund fährt, um einen Türken zu töten.
»WeiSSe Wølfe« wird auf drei Ebenen erzählt: Als Rahmenhandlung dient die Geschichte der Recherche David Schravens. Erzählt wird zudem von den immer tieferen Verstrickungen des Dortmunder Nazis Albert S. in die rechte, internationale Terror-Szene. Hinzu kommen dann noch, als Hintergrund, Auszüge aus dem rassistischen Roman »Die Turner-Tagebücher«, den der amerikanische Neonazi Wiliam Luther Pierce 1978 unter dem Pseudonym Andrew Macdonald herausgebracht hat. Das Buch dient rechten Terroristen als Blaupause.
Der zunächst noch Iro tragende Punk Albert S. wird von türkisch-stämmigen Jugendlichen verprügelt und von der Gesellschaft allein gelassen. Er radikalisiert sich, baut Rohrbomben, gerät in die rechte Szene, begegnet Michael, der drei Polizisten erschossen hat, und bekommt Kontakt zu radikalen Rechten in Belgien.
David Schraven ist Journalist, war Ressortleiter Recherche bei der WAZ-Mediengruppe und leitet heute das gemeinnützige Recherchebüro »Correctiv« in Berlin und Essen. Der Mann hat Erfahrung mit harten und schwierigen Themen. Trotzdem – wie spricht man mit so jemandem wie Albert S.? »Ich habe sehr lange gebraucht und musste richtig reinarbeiten. Wie viele Menschen hat auch Albert S. das Bedürfnis, von seinem Leben zu erzählen. Von dem Moment an, als er verstanden hatte, dass ich mich mit seiner Geschichte ernsthaft auseinandersetzen wollte, lag auch ihm daran, wahrheitsgemäß zu berichten. Er wollte, dass endlich mal öffentlich wird, dass in einer belgischen Kaserne ein belgischer Offizier Nazis in Sachen Geiselnahme ausbildet.«
Der Illustrator Jan Feindt hat »WeiSSe Wølfe« in kargen Schwarz-Weiß-Bildern gezeichnet, hart und schnell geschnitten wie ein Film. Flächige Grafik wechselt mit fotorealistischen Elementen. Fallende Blätter, Ruhrgebietsfassaden. Direkt nebenan. Dazwischen immer wieder die Symbole der rechten Organisationen wie »Blood and Honour« oder »Combat 18«; Hakenkreuze, Runen, Totenköpfe. Erschreckend ist nicht nur, wie weit sich das Terrornetzwerk mittlerweile ausgebreitet hat, sondern auch, wie ignorant die Politik dem gegenübersteht. Auf eine Anfrage Schravens an das Innenministerium zu den Combat 18-Zellen »kann keine detaillierte Antwort erfolgen«; die Dortmunder Polizei schickt lediglich einen Wikipedia-Artikel. Dortmunds SPD-Oberbürgermeister Sierau bestritt nach dem Mord an einem Punker durch einen Skinhead, dass seine Stadt eine Nazi-Hochburg sei. In »WeiSSe Wølfe« sieht man Sierau während einer Pressekonferenz, auf der er betont, dass es in Dortmund kaum Nazis gebe. Die rechtsextremistischen Demonstranten würden sich die Stadt »wegen der günstigen Verkehrslage« aussuchen.
Also alles halb so schlimm? Von wegen. David Schraven blättert im Buch zu den ersten Seiten. Die Bilder sind undeutlich, Monitorrauschen liegt über ihnen. »Hier, das ist das Vorspiel, auf dem die Geschichte basiert. Es stammt aus einer strategischen Diskussion, die die Nazis gehabt haben. Sie haben darüber diskutiert, Kinder zu erschießen, um den Terror zu maximieren!« Schraven kennt sich in der Szene aus. Gibt es dort tatsächlich Leute, die zu so etwas fähig wären? »Sie tun es! Es gibt genug Brandanschläge, wo Kinderwagen angesteckt worden sind. Das ist nicht nur ein brennender Kinderwagen, sondern ein Symbol! Und es gibt Leute, die aus diesem Geist heraus inspiriert werden, wie Anders Breivik. Der hat in Oslo und Utoya 77 Menschen umgebracht! Oder eben Michael Berger aus Dortmund, der drei Polizisten ermordet hat.«
Man spürt, wie wichtig Schraven das Thema ist. Er will Bewusstsein schaffen. Sicher, eine solche Geschichte in Comicform zu erzählen, ist nicht neu. Art Spiegelman hat mit »Maus« den Holocaust grafisch umgesetzt. Dennoch ist die Chance groß, dass sich so auch Jugendliche damit aus-einandersetzen. Schraven plant, aus dem Stoff zusätzlich Schul-Material zu machen, und im April kann man sich im Theater Dortmund die begleitende Ausstellung zu »WeiSSe Wølfe« anschauen.
Am Ende der Geschichte entfernt sich der Blick von der Erde und steigt immer höher; zeigt Dächer, Straßen und Landschaften. Strukturen werden sichtbar. Die Flammensymbole, die die Tatorte markieren, sind signalrot; die erste und einzige Farbe im Buch. Es brennt in Europa.
David Schraven & Jan Feindt: »WeiSSe Wølfe – Eine grafische Reportage über rechten Terror«, Correctiv, Berlin/Essen, 2015, 224 Seiten, 15 Euro, bestellbar unter: www.correctiv.org
Die begleitende Ausstellung ist ab Mitte April 2015 im Foyer des Theater Dortmund zu sehen.