TEXT: GUIDO FISCHER
Den peinlichsten Moment ihrer Karriere musste sie mit einem ihrer Herzenskomponisten durchleiden, mit Mozart. Maria João Pires sitzt im Amsterdamer Concertgebouw vor dem Flügel und erwartet die ersten Orchestertakte. Doch was sie hören muss, fährt ihr wie ein Blitz durch sie hindurch. Riccardo Chailly dirigiert in einem öffentlichen Probenkonzert nicht etwa das von ihr einstudierte Mozart-Klavierkonzert, sondern jenes berühmte in d-Moll KV 466. Pires schlägt die Hände vors Gesicht, signalisiert Chailly Hilflosigkeit. Und was macht der? Dirigiert einfach weiter und spornt die Pianistin nebenbei im kurzen Dialog an, dass sie das Konzert beim letzten Aufeinandertreffen so herrlich gespielt habe und es doch in- und auswendig kenne. Wie sich Chailly später erinnert, brauchte Pires nur eine Minute der Konzentration, um die Aufführung ohne Fehler
zu meistern.
Die Aufzeichnung hat sich im Internet zum Klassiker der Kategorie Klassik-Pleiten, -Pech und -Pannen entwickelt. Aber die Aufnahme erzählt auch etwas über Pires’ phänomenales Gedächtnis und ihrer absoluten Vertrautheit mit dem Klavierschaffen Mozarts. Zugleich spiegelt sich in ihrer verzweifelten Miene das grundsätzliche Unbehagen, nicht nur in Extremsituationen den Blicken der Öffentlichkeit ausgesetzt zu sein. Denn die Portugiesin bekennt, sie liebe zwar unbedingt die Musik. Aber Konzerte hat sie noch nie gern gegeben, wie sie wiederholt in Interviews verrät. »Ich spiele gerne Klavier, ich bin aber nicht gerne Pianistin« – der Satz ihrer großen Kollegin Martha Argerich könnte von ihr stammen.
Trotzdem hat Pires, anders als Argerich, niemals unvermittelt Konzerte abgesagt, wenn sie zu viel Erwartungsdruck verspürte. Und erst recht dachte sie nie daran, Abschied vom Publikum zu nehmen, sich wie Glenn Gould vom Konzertleben zu verabschieden und rein ins Aufnahmestudio zurückzuziehen. Irgendwie hat sich Pires mit dem Konzertieren arrangiert, weil es sich eben so ergeben habe, wie sie betont. Wenn die zierliche, durchaus scheu wirkende Musikerin sich ans Klavier setzt, ist sie freilich voll und ganz bei der Sache.
Ihr Mozart-Spiel ist klassizistisch klar und besitzt zugleich Empfindsamkeit für all jene kleinen Dramen, die sich nicht nur in den Klavierkonzerten abspielen. Bei Chopin interessiert sie weniger das salonhaft Glamouröse als mehr das innig Bewegende und das kantabel Schwebende. Gerade das Wechselspiel aus sehnsuchtsvoller Kargheit, ungeschönter Wucht und volksmusikalischem Liebreiz, das Franz Schuberts Spätwerke auszeichnet, liegt bei Pires in besten Händen.
Mozart, Chopin, Schubert sowie Beethoven, Schumann und Brahms – sie bilden den musikalischen Kosmos, in dem sich die Künstlerin mit den erstaunlich kleinen Händen bewegt. Hier und da kam mal eine Bach-Suite hinzu. Auch Violin- und Cello-Sonaten von Beethoven bis Debussy hat die begeisterte Kammermusikerin im Repertoire. Aber Solowerke etwa von Liszt, Rachmaninow oder Prokofjew sucht man unter ihren vielen Schallplatten- und CD-Einspielungen vergeblich. Sie könnte diese Komponisten nie spielen, da sie nicht ihrer Vorstellung von Klanglichkeit entsprechen würden.
Dass die 1944 in Lissabon geborene Pianistin sich auf den Kern des klassisch-romantischen Erbes fokussiert, hat etwas mit zwei ihrer späteren Förderer und Lehrer zu tun. Wilhelm Kempff und Karl Engel nahmen sich in München und Hannover ihrer an und prägten sie nachhaltig, was Transparenz und poetischen Gehalt der Musik betrifft. Mit 16 Jahren hatte Pires ihre Heimat verlassen, um in Deutschland zu studieren. In ruhigen Bahnen war ihr Werdegang bis dahin nicht verlaufen. Die Siebenjährige gab als Wunderkind ihr Konzertdebüt mit Klavierkonzerten von Mozart. 1953 kam sie in die Konservatoriums-Klasse von Campos Coelho, der pädagogisch ein Unhold gewesen sein muss. Während er im Unterricht strikt Gehorsam und Disziplin predigte, riet er der Mutter seiner Schülerin, sie mit Schlägen auf den rechten Weg zu bringen. Glücklicherweise begegnete Pires in jener Zeit Francine Benoît, von der sie in Komposition, Theorie und Musikgeschichte unterrichtet wurde sowie als Interpretin Impulse erhielt.
Der internationale Erfolg kam 1970 mit dem Gewinn des Internationalen Beethoven-Wettbewerbs. Seitdem ist Pires in den meisten bedeutenden Musikzentren aufgetreten, wobei sich eine besonders enge künstlerische Freundschaft mit Dirigent Claudio Abbado bilden sollte. Sie hätte sicherlich eine noch größere Karriere machen können, meint Pires rückblickend: »Aber ich wollte es nicht.« Die Zurückhaltung hat auch etwas mit ihrem Engagement jenseits des Konzertbetriebs zu tun. So gründete sie vor Jahren im Nordosten von Lissabon ein interdisziplinäres Kulturzentrum für Künstler und Wissenschaftler. Ähnliches versuchte sie in Brasilien zu organisieren. Zudem unterrichtet sie in Brüssel an der Chapelle Musicale Reine Élisabeth und fördert Musikprojekte für benachteiligte Kinder.
Am 20. Juli feiert Pires ihren 70. Geburtstag. Auch wenn sie oft angedeutet hat, mit dem Datum ihre Laufbahn zu beenden, liegt ihr Farewell-Konzert noch in weiter Ferne. So sind ihre jetzigen Konzerte womöglich nicht ihre letzten beim Klavier-Festival Ruhr. Am ersten Abend präsentiert sich Pires mit den vier Impromptus D 899 und der großen B-Dur-Sonate D 960 als vollendete Schubert-Flüsterin. Der zweite Auftritt steht im Zeichen Mozarts. Es steht offiziell jenes Klavierkonzert in d-Moll KV 466 auf dem Programm, dass Pires vermutlich wie kein zweites verinnerlicht hat.
M J Pires, Werke von Schubert und Debussy: 15. Juni 2014, Philharmonie Essen; M J Pires, Kölner Kammerorchester, C. Poppen, Werke von Mozart: 3. Juli, Stadthalle, Mülheim an der Ruhr. www.klavierfestival.de