// Weilerswist ist nicht der Ort, an dem man seinen Urlaub verbringen möchte. Zwar liegt die kleine Gemeinde zwischen Eifel und Köln recht idyllisch an der Erft, die noch irgendwie unentschlossen ihren Weg zur Mündung bei Neuss sucht, aber das ist dann schon so ziemlich das einzige, was diese Gemeinde attraktiv macht. Ein Argument, das von einem Urlaub in Weilerswist abhält, liegt in der Luft. Es ist der Lärm, der je nach Windrichtung von der A 1, von der A 61 oder vom nahe gelegenen Autobahnkreuz Bliesheim herüber weht. Weht der Wind nicht, dann können sich die Weilerswister mit der hauseigenen Geräuschkulisse behelfen. Quer durch den Ort führt die Kölner Straße, eine Durchgangsstraße. Jedes Auto verursacht hier einen Höllenlärm, und grau klebt der Dreck des ausklingenden Winters an den Straßenrändern.
Nichts weist in Weilerswist darauf hin, dass hier einmal große Kunst entstand, dass von hier Impulse ausgingen, die selbst Menschen im Ausland beflügelten, die Deutschland den Ruf einbrachten, rockmusikalisch auch mal ganz weit vorne zu sei. Hier in Weilerswist entstanden die wichtigsten Werke der Gruppe »Can«, jener Formation, die zwischen ihrer Gründung im Jahre 1968 und den ausklingenden 70ern nicht nur die heimische Rockszene aufmischte, sondern gemeinsam mit »Kraftwerk« von Größen wie David Bowie, Brian Eno und Johnny Rotten in der Liste ihrer Einflüsse ganz oben geführt wurde und wird. Die Musiker von Can machten fast alles anders. Sie weigerten sich, klassischen Song-Arrangements zu folgen, nahmen Umweltgeräusche als Teil ihrer Musik wahr und setzten auf die hypnotische Kraft der endlosen Wiederholung. Dass ausgerechnet in Weilerswist so etwas entstehen konnte, hat sicherlich mit der Reizarmut des Örtchens zu tun. Niemand sucht hier auf der Straße nach Abwechslung. Draußen ist es trist und grau, da bleibt man lieber im Studio, im berühmten Can-Studio. Das liegt sehr versteckt hinter einer Bäckerei und war früher mal das örtliche Kino.
Klingelt man dort, öffnet ein freundlicher Herr, der den Besucher ausführlich mustert und neugierig registriert. Es ist Holger Czukay, Mitbegründer von Can, der nach langjähriger Abstinenz wieder Mieter des Studios ist. Czukay erhält viel Besuch in diesen Tagen, denn am 24. März feiert er seinen 70. Geburtstag, ein Vierteljahr bevor sich die Gründung von Can zum 40. Mal jährt.
Schon im Herbst gab es viel Aufsehen um die Band, denn da wurde 190 Kilometer weiter nördlich die Verlegung des Can-Studios ins Gronauer Rockmuseum gefeiert. Eine Aktion, die nicht bei allen Beteiligten auf Begeisterung stieß. »Sehr eigenartig«, sagt Holger Czukay, wenn man ihn fragt, wie er diese Aktion denn empfunden habe. Er habe das Studio nicht wiedererkannt. Was dort in Gronau stehe, sei vielmehr das Inner-Space-Studio, das er nach dem Auszug von Can lange mit dem Schweizer Produzenten René Tinner betrieb, bevor er sich frühzeitig aus dem Geschäft zurückzog. Tinner hat dann in Weilerswist Hits produziert für Marius Müller Westernhagen, »Trio« und »Element Of Crime«. Auch Joachim Witts großer Schlager »Der goldene Reiter« ist hier entstanden. Im Inner-Space-Studio wohlgemerkt, nicht im Can Studio. Auf die Differenzierung legt Czukay Wert.
Er muss es wissen, denn er war von Anfang an dabei. Acht reguläre Studioalben hat Can zwischen 1971 und 1978 in diesem Raum produziert, der beim Besuch im wohlig ausgeleuchteten Halbdunkel liegt und noch immer eine ganz besondere Erhabenheit ausstrahlt. Die fünfeinhalb Meter hohen Wände hat Czukays junge Lebensgefährtin frisch mit wallenden Stoffen verkleidet. Von überall darf der Blick frei durch die Weite des ehemaligen Kinosaals schweifen. Nichts ist endgültig verstellt. Wo früher die Leinwand leuchtete, stehen nun Czukays elektronische Gerätschaften. In der Mitte lehnt, wie eben erst zur Seite gestellt, ein Kontrabass. Daneben auf einem Notenpult liegt eine Urkunde. »Teenager of 2007« steht darauf. Dänische Fans haben ihm dieses Diplom ausgestellt, »for being young at heart«.
In der Tat hat sich der 69-Jährige kindliche Züge bewahrt. Wenn er kichert, und das tut er oft, dann klingt das ein bisschen so wie bei Schuljungen, wenn sie dem Lehrer gerade Klebstoff auf den Stuhl geschmiert haben. Auf besondere Art hat sich der Klangtüftler dem Erwachsenwerden so verweigert wie sich schon Can den musikalischen Konventionen entzog. Als Universal-Dilettanten bezeichnet er sich heute noch und führt damit die Tradition der frühen Can-Tage fort.
Damals habe man vor der Wahl gestanden, entweder all den bestehenden Künsten noch eins drauf zu setzen oder aber als komplette Nichtskönner an die Instrumente zu gehen und sich auf die Kraft der Eingebung oder die Magie eines Fehlers zu verlassen. Damit war Czukay schon vor Can gut gefahren. Als er sich bei Karlheinz Stockhausen am Kölner Konservatorium vorstellte, gestand er freimütig, er sei vorher schon bei allen anderen Prüfungen durchgefallen. »Sie nehme ich«, hat Stockhausen gesagt.
Trotzdem musste sich Czukay wie auch seine Mitmusiker erst einmal von Stockhausen lossagen, um Can Wirklichkeit werden zu lassen. Stockhausen hasste Wiederholungen, Can lebte davon. Oft standen die Musiker stundenlang im Studio, spielten miteinander und gegeneinander. Czukay war Bassist und der Schnibbler, der gern unbeobachtete Momente mitschnitt und dann aus den Bändern ein Gesamtkunstwerk zusammenklebte.
Richtig berühmt wurde Can, als die Band 1971 den Soundtrack zum Francis-Durbridge-Krimi »Das Messer« bereicherte, und die musikalisch mehrheitlich noch eher konservativ gestimmten Zuschauer plötzlich Bekanntschaft mit den Klängen einer Bande von Langhaarigen machten. Die Zottel experimentierten beim Titel »Spoon« wild und sonderten beinahe rauschhafte Klänge ab, die sich mit sanft verhallender Monotonie zu einem wichtigen Stück psychedelischen Rocks steigerten.
Heute fällt vor allem die Stille auf im Studio, das nicht mehr Can-Studio ist, das vielmehr Czukay einen Spielplatz bietet. Kein Ton dringt herein. Kaum vorstellbar, dass draußen der Straßenverkehr die Luft vermüllt. Es ist so still, dass in manchen Momenten das Blut im eigenen Ohr zu hören ist. Auch er genieße diese Ruhe, sagt Czukay. Aber dann macht er sich doch wieder auf, nach neuen Tönen zu suchen. Nach wie vor ist er ein Klangtüftler, der auf Kurzwelle Geräusche und Stimmen abhört, sammelt und zu Musik verarbeitet. Schon bei Can hat er damit angefangen, hat sich eine Kurzwellensängerstimme aus dem Radio geholt und diese dann mittels einer Morsetaste an den Rhythmus der Band angepasst.
Auch das Internet nutzt Czukay – der seinen Namen auf den polnischen Begriff für Suche zurückführt – als Inspirationsquelle. Im Netz chattet er mit Menschen und tauscht Geräusche aus. Gerne würde er auf der Bühne stehen und sich live von daheim gebliebenen Internetfreunden Geräusche zuspielen lassen. Noch fehlt ihm allerdings die Software für ein solches Unternehmen.
Lässt man Czukay eine Weile reden, quillt er förmlich über vor lauter verrückten Ideen, und man muss sein Alter schon nachschlagen, um es begreifen zu können. Fragt man ihn danach, wie er sich die Musik im Jenseits vorstellt, spricht er allerdings von großer Stille. »Ich hoffe, dass es ganz ruhig ist«, sagt er.
Was man sich in Weilerswist halt so wünscht.