Text Andreas Wilink
»Terror« macht uns den Prozess – und macht moralisch Druck. »Offenbar geht es um ein noch nicht abschließend gelöstes Problem«, resümierte Alexander Kluge im Spiegel über »Terror«.
Lars Koch, 31 Jahre alt, verheiratet, Vater eines kleinen Sohnes, wohnhaft Berlin, Major der Bundeswehr. Die Anklageschrift legt dem Kampfflieger Koch zur Last, »am 26. Mai 2013 um 20:21 Uhr mit Hilfe eines Luft-Luft-Lenkkörpergeschosses ein Passagierflugzeug des Flugzeugtyps Airbus Industrie A320-100/200, das sich im Auftrag der Deutschen Lufthansa … von Berlin nach München befand, abgeschossen und damit die sich in dem Flugzeug befindlichen 164 Menschen getötet zu haben.« Ein Verbrechen dutzendfachen Mordes.
Terroristen hatten sich der Maschine bemächtigt, um sie in die Münchner Allianz-Arena stürzen zu lassen, wo 70.000 Menschen ein Fußballspiel erleben. Das Bundesverfassungsgericht hat 2006 erklärt, es widerspreche der Verfassung, unschuldige Menschen zur Rettung anderer unschuldiger Menschen zu töten. Leben dürfe niemals gegen Leben abgewogen werden. Ein Subjekt, die Kant’sche »Person«, dürfe nicht zum »bloßen Objekt staatlichen Handelns« werden. Damit wurde ein zentraler Paragraf des Luftsicherheitsgesetzes aufgehoben.
Der Fall wird verhandelt: und hat ein Nachspiel. Das ist das Bühnenstück – mit dem Gerichtssaal als Theaterbühne, die dramatische, auch egomane Auftritte ermöglicht, und als Zuschauersaal. Wir, das Volk, sind angesprochen als Schöffen, »aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung zu schöpfen«. Wir müssen Partei sein, im Für oder Wider, und am Ende den Schuld- oder Freispruch verhängen. Die Konstruktion macht Ferdinand von Schirachs »Terror« zum Gesellschaftsspiel – und verhältnismäßig spannend.
Kein true crime, aber eine perfid einfache Was-wäre-wenn-Dramaturgie, seminaristisch referiert mit der Lakonie, die das Rechtswesen bedingt. Man kommt bald in die Bredouille und moralisch ins Dilemma. Vertrackte Rechnungen werden aufgemacht, Argumente und Gegenargumente ausgetauscht: Größenordnungen, Zeitfaktoren, Relativierungen, Alternativen (hätte das Stadion rechtzeitig evakuiert, hätten die Highjacker von Passagieren und Crew überwältigt werden können?). Es raubt einem den letzten Nerv. Das ist der Trick.
Der Abgrund hier liegt in luftigen Höhen. In Flughöhe. So klar die Tatsachen sind und so effektvoll die Struktur des Gerichtsdramas offen liegt, so diffus die Mischverhältnisse von Recht und Unrecht, Gut und Böse, Schuld und Unschuld, von persönlicher Verantwortung, Befehlsgehorsam, gesundem Menschenverstand, Staatsräson oder staatlichem Versagen, Individualfall oder Prinzip, Heldentum oder Verfassungspatriotismus. Wir alle sind ein bisschen Prinz von Homburg, doch ohne dessen Rigorismus auch in der Selbstanklage. Und schwanken entlang der shifting baselines, der sich verschiebenden Wertmaßstäbe.
Das Wesentliche, das sich über die Uraufführung am Schauspiel Frankfurt sagen lässt, ist, dass sie fehlerfrei wie am Schnürchen abläuft und die Regie (Oliver Reese) sich auf der holzgetäfelten Tribunal-Spielfläche nahezu unsichtbar macht. Das Wesentliche, das sich über die parallele Uraufführung am Deutschen Theater Berlin sagen lässt, dass sie unter Regie von Hasko Weber alles falsch macht: die Bunker-Zellen-Bühne, die manipulativ (und damit kontraproduktiv) auf den Verhandlungsverlauf wirkt, die plakativen Fotos vom abgestürzten Flugzeug, der aufdringliche Video-Beschuss, die Idee, Lars Koch wie einen Christus auf den Boden flach zu legen.
In Düsseldorf verhandelt man unter Regie von Kurt Josef Schildknecht eine Stunde länger, als in Frankfurt und Berlin, holt alles und fast mehr raus, als im Stück drin ist, – und am Premieren-Ende eine eindeutige Mehrheit. Heinz Hausers Bühne macht es im Prolog überdeutlich und plakatiert groß Artikel 1 unseres Grundgesetzes. Breit baut sich unter Neonlicht und in Hochsicherheitstrakt-Grau das Podium. Weil am Vernehmungstisch die Zeugen mit dem Rücken zum Saal sitzen, werden die Gesichter ihrer Darsteller in Großaufnahme projiziert. Oben thront der Richter (Wolfgang Reinbacher in dezenter Bestimmtheit). Links sitzen Angeklagter und Verteidiger (Andreas Grothgar von auch glattrasierter Psyche). Rechts platziert ist die Staatsanwältin der Nicole Heesters mit der Miene einer stolzen Indianer-Häuptlingin: scharfsinnig, unnachgiebig argumentierend, reflektiert und das moralische Angebot ablehnend – eine Pallas Athene. Ihre hohe Leidenschaftlichkeit teilt sie hier mit Lars Koch, den Moritz von Treuenfels angenehm bescheiden, zuvorkommend, vertrauenswürdig und beherrscht als Primus ohne Allüren und dabei verhaftet in seiner subjektiven Haltung zeigt. Den Blick der Zeugin (Viola Pobitschka), deren Mann an Bord zu Tode kam, meidet er – den Tränen nahe bei ihrer Schilderung.
Gewissensfrage. Wem ist das Leben heiliger: Demjenigen, der 70.000 rettet und 164 Menschen opfert, oder dem, der nach der Ethik des unverhandelbaren Subjekts handelt? Lars Koch entscheidet sich – wissend um die Konsequenzen – nach dem Schicksalsspruch seiner Natur, die sich aus vielerlei zusammensetzt. Gemäß seinen »Innereien«, wie er es nennt. Für ihn herrschte übergesetzlicher Notstand: Krieg, mit dem gekaperten Flugzeug als Waffe, die er bekämpfen musste. So seine Rechtfertigungslehre.
Jeder, der sein Votum am Ende des Aufführungs-Tribunals abgibt, folgt ebenfalls der eigenen Natur. Gemäß der Logik seines Lebens. Also irrational. Auf der Webseite des Bühnenverlags von Ferdinand von Schirach ist der jeweils aktuelle Stand der Zuschauer-Urteile gelistet. Letzter Eintrag: 54,2 Prozent für Freispruch. So endet es meistens. Knapp pro. Wobei der Begriff Freispruch das Element des Sich-Frei-Sprechens enthält: Indem der Tathergang »wörtlich« wiederholt wird, befreit man sich von ihm – ein magisches Ritual, an das die Psychoanalyse anknüpft. So ist einem wohler mit dem entlastenden Ergebnis für Lars Koch, als es sein dürfte.
Düsseldorf, Schauspielhaus, Termine: 2., 5., 7., 15., 18., 21., 24. November 2015; weitere Inszenierungen in Aachen: ab 12. November; in Bielefeld: ab 30. Januar 2016.