TEXT: MICHAEL STRUCK-SCHLOEN
Man möchte es sich wie eine Szene aus einem Stück von Tschechow vorstellen. Johan Simons, der urwüchsige Niederländer und Lebensgenießer, und Teodor Currentzis, der hoch aufgeschossene, mystisch angehauchte Dandy, lehnen in bequemen Rohrstühlen auf der Terrasse eines russischen Sommerhauses und sprechen über Wagners »Rheingold«. Sprechen über die sozialrevolutionäre Euphorie des Barrikadenkämpfers Wagner, seine Gesellschaftsanalyse à la Bakunin, die Symbolik von Göttern und Nibelungen, den Klang des Orchesters ‒ jawohl, auch über diesen magischen Klang, der am »Ring«-Beginn aus der Tiefe des minimalistisch wiederholten Es-Dur-Akkords sich entfaltet und zunehmend verdinglicht bis zum posaunenpotenten Einzug der Götter in Walhall.
Auch wenn wir nicht dabei waren und das Gespräch vielleicht in einer Hotellobby in Bochum stattfand, kann man sich ausmalen, wie sich die beiden Männer in Fahrt reden. Currentzis, der Grieche mit russischem Pass und Exzentriker der russischen Kulturszene, breitet dem Gegenüber seine Idee vom Ende der Musik und der Zivilisation aus, das sich im »Ring des Nibelungen« ereigne und mit den Verbrechen im »Rheingold« vorbereitet werde. Dieser große Entwurf, den Wagner in symbolische Figuren und nicht in typische Operncharaktere gegossen habe, brauche eine szenische Umsetzung, die zugleich »sozialistisch und metaphysisch« sei, nicht romantische Oper, sondern modernes Mysterium. Spätestens hier wird der Intendant der Ruhrtriennale die Augenbrauen gedankenvoll hochgezogen und dann den befreienden Satz gesprochen haben: dass er nur einen Regisseur kenne, der diesen Spagat hinbekomme, und das sei er selbst, Johan Simons.
»Das Rheingold« als Reise in das innere Bewusstsein der Menschheit, die sich am Ende selbst zerstört ‒ das wäre ein kühnes Gegenprojekt zum Bayreuther »Ring« von Frank Castorf, der das Scheitern aller Revolutionen mit anekdotischen Bildern aus dem proletarischen Heldenleben des 20. Jahrhunderts vorführt. Currentzis dagegen schwebt Spirituelles vor. Den Eintritt in das Territorium des kollektiven Un-bewussten sollen Klänge bewirken, die der finnische Elektromusikdesigner Mika Vainio auf dem Vorplatz der Bochumer Jahrhunderthalle installieren will. Im Herzen dieses Distrikts, der in der Planung wie ein akustisches Pendant zu den geheimnisvollen Landschaften der Filme des Andrei Tarkowski erscheint, spielt dann Currentzis‘ Orchester »MusicAeterna« Wagners Musik ‒ nicht schwer und blechlastig, sondern mit dem »etwas trockenen, aber wunderschönen Klang, den das revolutionäre Orchester von Wagner produziert«.
Egal, was die Premiere von »Das Rheingold« bringen wird, man darf sicher sein, dass sie Teodor Currentzis zum musikalischen Erlebnis macht. Womöglich zur Sensation. Denn der 1972 in Athen geborene Dirigent, dessen Ideen bisweilen abgedreht und esoterisch wirken, hat ein enormes Gespür für die Seele und den Geist der Musik, die er mit einer Truppe bedingungslos auf ihn eingeschworener Musiker präzise und feurig herausarbeitet. Dabei ist Currentzis früh klar geworden, dass sein Bewusstsein für Qualität nicht vereinbar ist mit den üblichen Arbeitsbedingungen an den Stadttheatern dieser Welt, egal ob östlich oder westlich. Also begab er sich auf die Suche nach dem, was er den »Plan B im Musikleben Russlands« nennt.
In der eurasischen Millionenstadt Nowosibirsk übernahm er das »Akademische Opern- und Ballett-Theater« und machte es nach eigener Einschätzung zum »besten Operntheater Russlands«. Das Herz seines Reformprogramms hat er selbst eingepflanzt, als er das Orchester »MusicAeterna« gründete: ein Ensemble aus internationalen Musikern, das Currentzis durch unkonventionelle Probenzeiten, mentales Training und ein gemeinsames Gesellschaftsleben (über dessen Ausgelassenheit so manche Anekdote kursiert) zur Elitetruppe ohne die übliche ästhetische Patina russischer Berufsorchester formte. Die jüngste CD mit Musik von Jean-Philippe Rameau, vor allem aber die Aufnahmen von Mozart-Opern, lassen die umwerfende Musikalität und den technischen Anspruch deutlich hören.
Obwohl Currentzis auch Romantisches und Zeitgenössisches dirigiert, sind Klang und Temperament von »MusicAeterna« undenkbar ohne die Erfahrung mit barocken Spielpraktiken. Leicht werden die Bögen angesetzt, der Klang wirkt zerbrechlich, kraftstrotzend oder bassfreudig, aber immer voller Kontur, nie wie ein französischer Weichkäse. »The Sound of Light« hat er seine jüngste Einspielung mit Musik von Rameau überschrieben, denn: »Seine Musik trifft unsere Herzen so direkt wie ein Sonnenstrahl, der durch die schwarze Unendlichkeit des Weltraums schneidet, bis er endlich auf das menschliche Auge trifft, auf ein grünes Blatt, eine Rosenblüte«. Man verzeiht ihm solche blumigen Aperçus sofort, wenn man die sinnliche Vielfalt der Instrumental- und Arienhäppchen aus Rameau-Opern hört. Ein kreativer, wacher Geist weht durch die dürr überlieferten Noten. Und am Ende weiß man nicht mehr recht, ob es gerade Musik von Rameau, Elgar, Tschaikowsky oder Strawinsky ist.
»Was mich interessiert, wenn ich eine Partitur studiere, ist die Geschichte von geistigen Revolutionen«, sagt Currentzis. Und meint damit auch und vor allem Mozart. Auf »Le nozze di Figaro« folgte zuletzt »Così fan tutte« (bei Sony). Mit dem atemberaubenden Timing gut gemachter Musicals schießen Lorenzo DaPontes freche Dialoge in die Ensembles ein, zündet der Funke des (meist) erotischen Schlagabtauschs in den Arien unter unerhörtem Hochdruck. Die Ensembles sprudeln über vor Temperament, aber Currentzis kennt auch eine sentimentale Seite in seiner Dirigentenbrust, die ihn hemmungslos in schönen Stellen schwelgen oder ein Adagio pathetisch übertreiben lässt. Zufall oder Laune ist dabei nichts: Er weiß, was er will und wie Musik atmet, ohne zu keuchen.
Seit 2011 reitet Currentzis seine Attacken gegen die Verödung des russischen Kulturlebens und die Maßnahmen gegen unbequeme Künstler in Perm ‒ einer ehemaligen Industriestadt am Ural, die seit der Zarenzeit umgeben war von Straflagern. Nach dem Zweiten Weltkrieg war Europas letzte Millionenstadt vor dem Grenzgebirge nach Asien für Ausländer und sowjetische Normalbürger unsichtbar. Ihre Position auf den Landkarten war gefälscht, die Stadt selbst nur für Einwohner und Mitarbeiter der Rüstungsbetriebe zugänglich. In den letzten Jahren jedoch ist dieses »ferne Land«, wie die Übersetzung des finnischen Namens Perm lautet, der europäischen Kulturszene etwas näher gerückt. Dafür sorgte der Gouverneur Oleg Tschirkunow, der die problematische Vergangenheit offensiv anging und daran erinnerte, dass viele politische Häftlinge und Intellektuelle nach ihrer Entlassung aus den Gulags in Perm blieben und hier ein relativ liberales Geistesklima schufen. Und weil die Perestroika der von lieblosen Autoschneisen und sozialistischen Repräsentationsbauten dominierten Stadt zwar mehr Freiheiten, aber kein besseres Image verschaffte, setzte Tschirkunow auf Kultur als Identifikationsfaktor ‒ und auf Currentzis als ihren Motor.
Mit dem Programm am Opernhaus von Perm bot Currentzis dem Standard-Repertoire die Stirn und organisierte ein viel beachtetes Festival zu Ehren des bedeutenden Tanz-Impresarios Sergej Diaghilew, dessen Vater bei Perm eine Wodka-Fabrik leitete. Das Wunder geschah: Das hässliche Entlein unter den russischen Städten mauserte sich – Kultur auf allen Ebenen. Mittlerweile aber haben der Gouverneur und das geistige Klima im Land gewechselt, kurz vor Beginn des diesjährigen Festivals wurde der Etat auf die Hälfte gekürzt. Für Currentzis eine typische Schikane der Behörden, mit der unliebsame Künstler einer versteckten Zensur unterworfen werden.
Currentzis erwartet weitere Sabotagen aus dem Kulturministerium. »Das sind Leute, die sich als russische Patrioten ausgeben, aber das Land und seine Kultur ruinieren. Man will eine Art kulturelle Elite schaffen und duldet keine Experimente mehr. Und wenn ich als Opernchef nicht der Stadt Perm, sondern direkt dem Ministerium unterstehen würde, hätten sie mich schon längst in die Wüste geschickt. Auf jeden Fall stehe ich auf der Liste der gefährdeten Kulturgüter…«
Dennoch ist es auch beim diesjährig reduzierten Diaghilew-Festival noch einmal gelungen, die gesamte Stadt in die Kultur einzubeziehen. Neben der Eröffnung mit Gustav Mahlers Fünfter Sinfonie wurde das 2004 wiederaufgefundene Opernfragment »Orango« von Dmitri Schostakowitsch erstmals auf einer russischen Bühne gezeigt und tönende Bewusstseinserweiterung à la Currentzis versucht ‒ mit dem Projekt »Slow Music«, bei dem Splitter von langsamen Musikstücken in endlosen Loops mit langen Pausen gespielt wurden, während sich das Publikum in völliger Dunkelheit bettete. »Das ist natürlich keine Interpretation im klassischen Sinne, sondern eher eine Meditation, bei der man aber die Idee des Komponisten viel klarer erkennt«, sagt Teodor Currentzis. Da ist es für einen spirituell denkenden Musiker wie ihn bis zum entrückten Beginn des »Rheingold« kein großer Schritt. Für den großen Griechen ist Musik eine Reise ins (stilistisch) Offene, vor allem aber ins Innere ‒ unerwartete Glückszustände inbegriffen.
Richard Wagner, »Das Rheingold«, 12., 16., 18., 20., 22., 24., 26. September 2015, Jahrhunderthalle Bochum. Eine Produktion der Ruhrtriennale. Gefördert von der Kunststiftung NRW.