TEXT: GUIDO FISCHER
»Der Hörer muss gepackt werden und, ob er will oder nicht, in die Flugbahn des Klangs gezogen werden, ohne dass dazu eine besondere Vorbildung nötig wäre.« Schon 1955 deutete Iannis Xenakis mit dieser Maxime an, dass keiner sich den gewaltigen Urkräften seiner Musik würde entziehen können. Die Reaktionen auf sein neues Orchesterstück »Metastaseis« gaben ihm recht. Kaum war der letzte Ton des zehnminütigen Werks verklungen, erntete es von dem in Donaueschingen anwesenden Fachpublikum für Neue Musik heftigen Widerspruch. Statt den musikästhetischen Trends jener Zeit brav zu folgen und streng rational ins Innerste der Musik vorzudringen, entzog Xenakis den Ohrenzeugen völlig den intellektuell sicheren Boden. Aus einer einzigen Note entwickelte er zwei riesige Klangbögen, die zur konturlosen Masse verschmolzen und sich wie eine Klangwalze durch den Konzertsaal bewegten.
Musik als sinnlicher und zugleich unkalkulierbar anspringender, körperhafter Raumklang – mit dieser Vorstellung von zeitgenössischer Musik machte sich Xenakis damals kaum Freunde. Seinen mit »Metastaseis« eingeschlagenen Weg ging der griechische Wahl-Franzose jedoch unbeirrt weiter. Der faszinierend archaischen Wucht und nervenaufreibenden Wildheit, die sich durch seine Orchesterstücke, Kammermusik und auch zahlreiche Schlagzeugkompositionen ziehen, kann sich keiner mehr entziehen.
Einen ausführlichen Blick in den Xenakis-Kosmos bietet das Kölner Festival »Acht Brücken« nach den Hommagen an Pierre Boulez (2011) und John Cage (2012) in seiner dritten Ausgabe. Fast 40 Stücke sind in der Werkschau zu hören, die selbst das kaum bekannte Frühwerk von Xenakis beleuchtet. So beschäftigte sich 1951 der damals 29-Jährige völlig unavantgardistisch mit jenen Folklore-Tanzrhythmen, die ihm nach seiner Flucht 1947 aus Griechenland noch im Gedächtnis geblieben waren.
ER SAH SICH NIE ALS VORBILD
Im Zentrum des Konzertmarathons stehen vor allem Xenakis’ revolutionäre Klangraum- und Raumklang-Experimente, mit denen der einstige Assistent von Le Corbusier die Perspektiven des Hörens maßgeblich mitveränderte. Das Ensemble Modern bringt das bereits 1985 in Köln uraufgeführte Stück »Alax« für drei im Raum verteilte Klanggruppen zur Wiederaufführung. In »Khal Perr«, dirigiert von Esa-Pekka Salonen, begegnet man den gepressten Klangwolken und wuchernden Glissandi aus »Metastaseis«. Während die jungen, überragend guten Streicher vom JACK Quartet sich furchtlos ins komplexe Stimmengewühl von Xenakis’ Streichquartett-Schaffen wagen, jagt Martin Grubinger mit fünf Schlagzeugern rituell anmutende Trommelfeuerschleifen durch den Raum.
Xenakis, der 2001 in Paris verstarb, hat sich zwar zeitlebens nie als Vorbild gesehen. Sein enormer Einfluss aber spiegelt sich besonders in zwei völlig entgegengesetzten Konzerten wider. Mit seinem 1969 in Düsseldorf uraufgeführten »Requiem für einen jungen Dichter« knüpfte Bernd Alois Zimmermann an Xenakis’ grundsätzlichen Zweifel an, dass bei einem Konzert »der Klang nur aus einer Richtung kommen« dürfe. So verteilen sich in Zimmermanns pluralistischen Text- und Musikcollagen die Solisten, Chöre, Orchester- und Jazzmusiker auf unzählige Stationen in der Philharmonie und sorgen dafür, dass man sich wie in einer großen Klangkugel fühlt.
Mit DJ Spooky schlagen die »Acht Brücken« dagegen einen Steg von Xenakis herüber zum zweiten Festival-Schwerpunkt, der sich der elektronischen Musik in allen Facetten widmet. Immerhin hatte der amerikanische, eigentlich auf Underground-Beats spezialisierte Sample-Guru 1997 die Gelegenheit, Xenakis in New York kennenzulernen. Und war auch an der Einspielung seiner elektro-akustischen Ballettmusik »Kraanerg« beteiligt. Xenakis sei für ihn »einer der ganz großen Helden der Musik«, meint Paul D. Miller alias DJ Spooky, der in Köln auch mit dem JACK Quartet in einem gemeinsamen multimedialen Projekt auftritt.
Dieses Zusammenspiel aus handgemachten Klängen und synthetisch generierten Sounds ist nur einer von vielen Programmbausteinen, die sich elektronischen Klangbewegungen widmen. Der täglich stattfindende »Elektroakustische Salon« lädt mit Archivschätzen des italienischen Futuristen Luigi Russolo über die Musique Concrète bis zum Ambient-Pop-Vater Brian Eno ein. Die zahllosen Kompositionsaufträge, die etwa an renommierte Komponisten wie Robert HP Platz und Enno Poppe sowie an das junge Komponistenkollektiv Stock 11 gingen, loten vorrangig die Schnittstellen zwischen festen Instrumentenkörpern und flüchtigen Computerklängen aus. Etwas Nostalgie schwingt trotzdem hier und da mit. Schließlich erinnern manche Konzerte nicht zuletzt auch an Köln als Metropole für elektronische Musik. So erklingen epochale Werke, die im legendären 1951 gegründeten, seit 1999 endgültig zerlegten Studio für elektronische Musik des WDR produziert worden sind.
Xenakis nahm hier in den 1970er Jahren seine achtkanalige Komposition »La Légende d’Eer« auf. Gewiss darf nicht Stockhausens »Gesang der Jünglinge« fehlen, mit dem das visionäre Junggenie 1956 ein bahnbrechendes Manifest der elektronischen und dreidimensionalen Musik ausgetüftelt hatte. Ursprünglich für den Kölner Dom komponiert, musste die Uraufführung nach Widerständen seitens der Kirche im Funkhaus stattfinden. Wenngleich das Publikum auf die Sinuskurven, beschleunigten Sprachpartikel und elektronischen Glitzertonregenstürme mit Gejohle reagierte, sollte der revolutionäre Geist des »Gesangs der Jünglinge« mehrere Musikergenerationen auch aus Pop und Rock inspirieren. Beim Festival kommt dieses völlig unverstaubte Tonband-Dokument zwei Mal zu Ehren: in der Philharmonie sowie nach 57 Jahren endlich auch an seinem Bestimmungsort – im Dom.
»Acht Brücken. Musik für Köln« 30. April bis 12. Mai 2013. www.achtbruecken.de