TEXT: ULRICH DEUTER
Der Tarlabaşı ist Istanbuls Janus-Boulevard. Auf seiner lachenden südlichen Seite stöckeln zwei top-modische junge Frauen in Richtung Istiklal Caddesi, der Shopping- und 24-Stunden-Flaniermeile, keine 200 Meter entfernt. Auf seiner dunklen nördlichen Seite markieren Polizisten mit Maschinenpistolen die Grenze zur Gegenwelt: Da prägen nicht Boutiquen und Banken in Gründerzeitpalästen das Straßenbild, sondern zerfallene Ruinen in schmutzigen Gassen. Dröhnt keine Jeunesse dorée die Nächte durch, sondern hocken hinter brandschwarzen Fassaden und folienverklebten Fensterhöhlen die Globalisierungsverlierer der Türkei.
Tarlabaşı ist das Slum-Viertel Istanbuls, das Harlem der Boomtown am Bosporus. Hier leben verarmte Dörfler aus Anatolien, geflohene Kurden, Illegale aus Afrika. Seit jüngerem auch Transvestiten, Stricher, Kleinkriminelle. Weil Tarlabaşı zum Stadtbezirk Beyoğlu gehört und damit nah an diesem westlich geprägten In-Viertel Istanbuls liegt, ist es Objekt rigider Stadtentwicklungspläne und aggressiver Bauspekulation. Hier, in der Çukur Straße, in Sichtweite der syrisch-orthodoxen Jungfrau-Marien-Kirche, lebt Mustafa Renklihava. Er ist Müllsammler, einer jener schmalen jungen Männer, die Nacht für Nacht die Geschäftsviertel und Straßen der Wohlhabenden durchkämmen auf der Suche nach Abfall, der wiederverwertbar ist. Sie sind die Mülltrenner der Türkei, widerwillig geduldet von einer Stadtverwaltung, die Recycling nicht kennt.
Die Haustür zu Mustafas Haus ist aus Pappe und Holzteilen zusammengenagelt und führt mitten hinein in Mustafas Lager und Betriebskapital: Müll. Bis zur Decke stapelt sich Plastikabfall, im Nachbarraum Pappe. Dazwischen führt geländerlos eine Holztreppe in den Oberstock, wo in zwei Zimmern Mustafas Familie lebt. Die Schwiegermutter lagert krank auf der Matratze, gegessen wird auf dem Boden, das Treppenpodest dient als Küche. Ist das Mülllager unten voll, fängt Mustafa an, den Inhalt an Zwischenhändler zu verkaufen, das reicht in der Regel für die Miete fürs Haus, 500 Lira, etwa 250 Euro. In der Nacht, wenn Mustafa nicht schlafen kann, malt er Comic-Figuren aus gefundenen Heften ab.
Am Abend steht Mustafas Bruder Bayram auf der Bühne des »garajistanbul«-Theaters und sagt: »Meine Arbeit ist meine Kunst. Es gibt vielleicht noch zwei andere in Istanbul, die so viel über Müll wissen wie ich.« Auch Bayram ist Müllsammler, wohnt in derselben Straße wie Mustafa. Aber sein Leben nahm eine Wende, als ihn im Februar dieses Jahres Theaterleute aus Deutschland ansprachen, Helgard Haug und Daniel Wetzel von »Rimini Protokoll«. Die Gruppe ist vielfach preisgekrönt für ihre besondere Form eines Realitäts-Theaters, in dem »Experten des Alltags« die Schauspieler ersetzen. Seit Ende 2009 war Rimini in der Stadt am Bosporus unterwegs auf der Suche nach Themen und Akteuren, denn »Istanpoli«, ein Theaterprojekt der Kulturhauptstadt Istanbul, hatte internationalen Bühnenkünstlern den Auftrag zu theatralischen Stadterkundungen erteilt. Koproduzent der Reihe ist Istanbuls Schwester-Kulturhauptstadt »Ruhr.2010«. Produziert und gespielt wird im »garajistanbul«.
Diese Kellerbühne im Herzen Beyoğlus ist die einzige gut ausgestattete freie Produktionsstätte der 15-Millionen-Stadt Istanbul. Zwar besitzt die Türkei ein (von deutschen Emigranten der Nazizeit mit begründetes) großes Staatstheatersystem, aber eine Förderung unabhängiger Bühnen existiert nicht. »garajistanbul« wurde 2007 von Mustafa Avkiran gegründet, einem Schauspieler und Regisseur, der sein Geld und Renommee als TV-Star aufwandte, um Mäzene zu gewinnen. »garajistanbul« steckt im Bauch eines Parkhauses – daher der Name. Durch klugen Umbau ist ein schönes, klares Raumtheater entstanden, das bis zu 150 Zuschauern Platz sowie Raum und Technik für die Entwicklung freier Theaterproduktionen bietet. Sofern das Geld da ist, das immer aufs Neue zusammengebettelt werden muss.
Premiere im »garajistanbul«. Die Tribüne voll besetzt mit Menschen aus der gebildeten Mittelschicht. Auf der Bühne die Unterschicht. Vier Müllmänner schieben jeder eine riesige Sackkarre, auf die sie noch riesigere Säcke wuchten. Mit den Karren fahren sie auf der Bühne ein seltsames Ballett. Einer von ihnen ist Abdullah, genannt Apo. Nach ihm ist das Stück benannt: »Mr. Dağacar and the Golden Tectonics of Trash«. Alle vier stammen aus demselben Dorf, Siverek; neun Monate im Jahr sammeln sie in Istanbul Müll. Sie sind verwandt; sie begreifen sich als Kollektiv; sie spielen auf der Bühne sich selbst. Sie erzählen von ihrer Arbeit; von ihrer Familie; von ihren Träumen; ihren Ängsten. Das Müllsammeln beginnt abends, zum Beispiel gegen neun beim Burger King; von jedem Geschäft wissen sie, wann es schließt. Pappe, Plastikflaschen, Getränkedosen. Bayram hatte eine schöne Hochzeit. Jetzt hat er drei Kinder. Aziz träumt davon, noch einmal zur Schule zu gehen und dann Abgeordneter zu werden, damit die Stimmen der Dörfler nicht verloren gehen. Aber zurück ins Dorf, um mit dem Esel Wasser zu holen, möchte keiner. Sie fühlen sich als freie Menschen. Sie arbeiten, wann sie wollen. Nur wollen sie nicht von anderen verachtet werden. Oder dass die Polizei ihnen die Säcke leert. Es sind Dias zu sehen vom Sammelhof, wo sie den ganzen Müll säuberlich sortierten. Die Müllsammlerspieler kippen den Inhalt eines Riesensacks auf die Bühne: Pappe, Plastikflaschen, Getränkedosen. Das hat eine seltsame Ruhe, eine fast professionelle Gelassenheit. Man spürt den Stolz dieser Männer. Man schaut ihnen zu, wie man den Schiffen beim Fahren über den Bosporus zuzieht. Jede Fiktion fehlt im Spiel, immer sind sie sie selbst, ob als Müllsammler, ob als Theater spielende Müllsammler. Denn zu dem, was sie über sich erzählen – abwechselnd, selten interaktiv –, gehört eben auch, wie sie zum Theater kamen. Wie die Deutschen sie sogar nach Berlin eingeladen haben. Wie das Theaterspielen das ganze Müllgeschäft zum Erliegen brachte.
Mit ihnen auf der Bühne ist ein Karagöz-Spieler; Karagöz ist das traditionelle türkische Schattentheater mit stark typisierten Figuren, ähnlich unserem Kasperlspiel. Die Schattenpuppen illustrieren einmal die Fahrt der Männer aus dem Dorf in die Stadt; ein andermal entwickeln sie eine Art Businessplan für Bayram. Insgesamt ist alles weit weniger komplex als sonst die Rimini-Produktionen. In einem der Müllsäcke steht Mithat und phantasiert sich eine Fabrik, in der all der Müll automatisch sortiert würde. Wie in Berlin. Aber dann gäbe es für ihn keine Arbeit mehr. Und Aziz fragt sich, was sein wird, wenn das Theater, in dem sie spielen, vorbei ist.
Indes fragt sich der Reporter, der auf Einladung von Ruhr.2010 nicht nur die Istanbuler Uraufführung, sondern auch die Lebensumstände der Müllsammler zu sehen bekam, ob, wenn »Herr Dağacar …« im November nach Essen kommt, die deutschen Zuschauer nicht einen sehr harmlosen Eindruck haben werden. Wer kennt schon die Realität türkischer Müllsammler! Helgard Haug fragt sich das auch. Aus verschiedenen Gründen, aber nicht zuletzt weil die vier Männer sich nicht reduziert wissen wollten auf ihr Leben im Müll, sei viel von der schmutzigen Wirklichkeit draußen geblieben; auch der Geruch. Insofern, sagt Haug, werden sie für die deutsche Premiere wohl noch etwas ändern müssen. Nicht nur die englischsprachige Übertitelung.
Das Licht auf der Bühne geht aus. Wieder erzählt Bayram einen Nachttraum, diesmal von einem blendenden weißen Licht, das durch die Tür fiel. Aber das Licht war schwer. Es lastete so gewaltig auf seiner Brust, dass es den Atem nahm.
Aufführungen 26./27./28. Nov. 2010, PACT Zollverein, Essen. Tel.: 0201/812-22 00. www.cznrw.de