Bei Pina Bausch ist es längst Tradition, dass sie zur alljährlichen Frühjahrspremiere ein noch titelloses »Neues Stück« vorstellt. Ein Werk, das Stunden bevor der Zuschauer es zu sehen bekommt, noch verändert wird, und Wochen, nachdem er es gesehen hat, ein anderes sein kann. »Unvollendete« können durchaus ihre Reize haben, auch wenn keine Pina Bausch Regie führt. Wer nach Essen-Katernberg zu PACT Zollverein/Choreographisches Zentrum NRW fährt, um ein so genanntes »Atelier« zu besuchen, erlebt Kunst im Entstehungsprozess: Skizzen, Werkausschnitte, Vorpremieren.
Im Programm der international ausgerichteten Produktions- und Spielstätte, die sich als Künstlerhaus und Institut für Forschung und Entwicklung versteht, sind die »Ateliers« nur ein kleines Format. Doch sind sie auf ihre Weise einzigartig: Junge Künstler diverser Disziplinen bespielen alle zwei Monate die beiden Bühnen, die Flure und sonstigen Ecken und Nischen der ehemaligen Waschkaue. Hier ist alles work in progress. Keine perfekte Inszenierung, kein teurer Eintritt. Am Eingang des »Ateliers« empfängt den Zuschauer ein bauchiges Glas, in das er ein paar Euros hineinwerfen kann – aber nur, wenn er mag. Denn im »Atelier« zählen andere Werte. Mehr als an Barem sind die Künstler am Feedback des Publikums interessiert, am Austausch nach der Vorstellung bei einem Glas im Foyer. Im einstigen Duschraum der Waschkaue sieht man dann zwanzig junge Leute auf altmodischen Sofas und Sesseln sitzen, ins Gespräch vertieft oder im vierseitigen Programmheft blätternd. Einige sind auch mit dem Pastagericht beschäftigt, das an diesem Abend auf dem Speiseplan steht. Wer den Blick schweifen lässt, schaut auf die zwischen Badezimmerspiegeln und -konsolen an den Wänden hängenden »Waldinterieurs«, die die Fotografin Astrid Korntheuer in Szene gesetzt hat. Auf den ersten Blick sind das harmlose Schwarz-Weiß-Aufnahmen, auf den zweiten erkennt man unter den samtenen Oberflächen ambivalente Stillleben. Die Natur wirkt hier so unberührt wie bedrohlich: Eine helle Schneise kann zur sonnigen Wiese führen – oder den Blick auf eine Leiche frei geben.
Am Rande des Foyers steht ein Modell der Arena auf Schalke. Daneben ein Bildschirm, auf dem ein Animationstrailer läuft. Beworben wird das Computerspiel »Goaling Loops« des Medienkünstlers Per Pegelow und der Designerin Sabine Lang. Die interaktive Installation macht den Zuschauer zum User und Fußball. Als solcher springt er nämlich virtuell durch die Arena. Wer ins Tor trifft, fliegt ins nächste Stadion. Geschickte Spieler können so fünf Arenen von Innen besichtigen. Soweit die Theorie. Am Abend des Januar-Ateliers sind lediglich Modell und Trailer als erste Projektetappe zu sehen. Ein work in progress eben. Dafür steht Sabine Lang neben ihrem Demo-Video und erklärt dem enttäuschten Betrachter freundlich, dass »Goaling Loops« noch nicht fertig ist. »Wir forschen noch«, sagt sie. Und: »Wir wollen das Feedback hier nutzen, um unter anderem die Markttauglichkeit des Spiels zu prüfen.« Die erste bislang verwertbare Reaktion: Ein Zuschauer hätte das Spiel gerne als Bildschirmschoner. Andrea Bozics und Julia Willms’ »Live interactive drawing & ghost story« ist da schon ausgereifter. Auf der kleinen Bühne entwickeln die Choreografin und die Videokünstlerin eine Beziehung zwischen einer Tänzerin (Andrea Bozic) und einer Filmfigur mit Hilfe einer Live-Kamera und einem vorgefertigten Video. Da die Blickwinkel gleich sind, verwischen die Konturen und mit ihnen die Realität. Ist die Tänzerin alleine oder nicht? Und wer ist die andere? Eine fiktionale Handlung nimmt ihren Lauf – oder ist sie real? Ein anregender Ansatz, der verdeutlicht, dass Technik und Tanz auf durchaus sinnliche Weise ineinander fließen können.
Andrea Bozic und Julia Willms sind derzeit Residentinnen auf Zollverein. Mit ihrem Projekt zählen sie zu den jährlich etwa 30 Residenzen, die von einer Jury aus mehr als 150 internationalen Bewerbungen ausgewählt werden. Nachdem sie wochenlang hinter den dicken Mauern des Industriedenkmals gearbeitet haben, nutzen sie das »Atelier«, um erste Ergebnisse ihrer »Research-Phase« zu zeigen. »Es ist wie eine offene Probe«, empfindet Julia Willms die Atmosphäre. »Für uns sind die Austauschmöglichkeiten mit den Leuten vom Haus, den anderen Performern und den Gästen wichtig.« Dabei ist es ihr egal, ob jemand vom Fach ist: »Mich interessiert jedes Feedback, ich möchte die Menschen erreichen.« Die »Ateliers« hält sie für eine »Supersache«: »Es geht um Tanz und Kunst als Event. Hierher kommen auch Leute, die sich für die eine oder andere dargebotene Kunstform eigentlich nicht interessieren und so an sie herangeführt werden. Da öffnen sich Horizonte.«
Die Kunst kennt keine Grenzen mehr. Immer fließender sind die Übergänge der einzelnen Sparten geworden. Reiner Tanz ist eine Rarität. Was ist überhaupt noch Tanz? Wo beginnt die Performance, wo endet die Installation? Die »Ateliers«, die sich im Untertitel als »Plattform für neue Kunst & Choreografie« offerieren, stehen allen Sparten offen. Und doch, bei genauer Betrachtung wohnt jeder Arbeit zumindest ein tänzerisches Moment inne: Der charmante, sehr französische Film von Alice Cassy, »Le Garde«, ist ein elfminütiger innerer Monolog eines Museumswärters, der seinen Stuhl nicht verlässt. Der unbewegte Mann verliebt sich in die Tänzerin Alexandra Naudet und entpuppt sich schließlich selbst als Tänzer. Der Performance-Künstler miu fragmentiert live und auf einem Bildschirm Sprache und setzt sie in Bezug zum Körper. Der Düsseldorfer Jörg Steinmann stattete im Juni 2005 eine Erdnussschale mit Sensoren aus. Griff jemand hinein, wurde das ganze Foyer zur Klanginstallation – der Raum geriet in Schwingungen. Er tanzte.
»Tanz ist der Motor für alles«, resümiert Stefan Hilterhaus, künstlerischer Leiter von PACT Zollverein, die Konzeption der »Ateliers«. Immer sei es die Bewegung, die wie nichts anderes eine gemeinsame Ebene in den Arbeiten schaffe. »Man kann den Tanz nicht mehr isoliert betrachten. Er wirkt auch stärker, wenn er in andere Kunstformen integriert wird«, so seine Wahrnehmung. Hilterhaus, selbst Tänzer, Choreograf und Meisterschüler Jean Cébrons an der Folkwang-Schule, möchte Kunst zeigen, die gesellschaftlich relevante Fragen stellt. Kunst habe heute andere Aufgaben als die der Reproduktion, eine ewige Tendenz im Ballett: »Viele Entwicklungen, die in den vergangenen zwanzig Jahren am Tanz vorbeigingen, sind jetzt langsam angekommen. « Themen wie das Hinterfragen von Wahrnehmung, die Objekthaftigkeit des Körper in der Mediengesellschaft, die Verbindung von Kunst und Wissenschaft, Methoden der Kunst oder die Interaktion neuer Medien sind mittlerweile auch für den zeitgenössischen Tanz wichtig geworden.
Die »Ateliers« erfand Hilterhaus vor vier Jahren, um den regionalen Künstlern eine Plattform zu bieten. Er wollte weg von den Abendfüllern, die oft produziert werden, weil die Choreografen sich von ihren Förderern oder Veranstaltern dazu verpflichtet glauben. Auch dann, wenn eine Arbeit nur 15 Minuten trägt. Seit 2002 sind die »Ateliers« zum internationalen Format gewachsen. Gespeist werden sie auch von »Feldstärke«, der interdisziplinären PACT-Plattform für Kunstakademien und Hochschulen aus NRW. An bislang 21 Abenden stellten sich Künstler aus aller Welt vor. Gage bekommen sie nicht, dafür aber eine Chance: Im Publikum sitzen neben Künstlerkollegen oft Scouts. Veranstalter, zum Beispiel von der Reinoldi-Kirche in Dortmund, vom Mousonturm Frankfurt, Entdecker aus Belgien oder Holland suchen Talente für ihre Bühnenprogramme. Pina Bausch sah bei einem »Atelier« die Israelitin Ronit Ziv und nahm sie mit ihrem Tanzstück »Rose can’t wait« prompt in ihr »Junges Programm« beim Internationalen Tanzfestival auf. Regelmäßig werden die Akteure selbst zu Entdeckern: Mancher Choreograf engagierte bei einem »Atelier« die Tänzer für sein nächstes Projekt.
Ein solcher Abend kann für einen Künstler bedeutend werden – und sei es nur als namhafte Station im Lebenslauf. Für den Veranstalter PACT Zollverein ist er von vergleichsweise geringem Aufwand. Anders als für das hochkarätige Bühnenprogramm begnügt man sich mit wenig PR. Die bleibt weitgehend den Künstlern überlassen. Vier bis sechs Wochen vor einem »Atelier« wählt das Produktionsteam des Hauses aus 20 bis 30 internationalen Bewerbern vier oder fünf Interessenten aus. Kriterium – neben der Länge der Arbeit und dem Raumbedarf – ist die Frage, ob die Arbeit zu diesem Rahmen passt. »Das ›Atelier‹, so Stefan Hilterhaus, soll als Laboratorium, nicht als Abspielort genutzt werden.«
Zurzeit brodelt es im Laboratorium. Wie sehen die aktuellen Strömungen aus? »Die guten Arbeiten bilden nicht nur mehr oder weniger Bekanntes ab. Es gibt einen deutlich differenzierteren Umgang mit der Wahrnehmung und mit der Zeit«, hat Hilterhaus in unzähligen Proben und Aufführungen beobachtet. »Die Medien werden erheblich stärker in die Arbeiten integriert, auch weil die Technik, wie etwa die Kameras, kleiner geworden ist.« Insgesamt werde die Kunst kleinteiliger, reflektierter und – komplexer. Damit sei auch seine Arbeit immer komplexer geworden, stellt Stefan Hilterhaus fest. Und immer relevanter – wie die Tanzkunst selbst. //
Das nächste »Atelier« ist am 10. März 2006, 20:00 Uhr, auf PACT Zollverein; www.pakt-zollverein.de/