Text und Interview: Christoph Vratz
Beethoven, die Sinfonien Nr. 3 und 8, die »Eroica« und ihre Aschenputtel-Schwester in F-dur, mit dieser Konstellation begannen Paavo Järvi und die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen vor Jahresfrist eine Gesamtaufnahme, die allerhöchste Aufmerksamkeit verdient. Beim Bonner Beethovenfest gibt es diesen Zyklus, über die Jahre verteilt, live zu erleben. Ein Antikmöbel. Immer wieder kommt mal jemand vorbei, wedelt mit dem Staubtuch drüber und meint, aus alt sei neu geworden. Besser wäre, gelegentlich auch reinzuschauen. Womöglich liegt auf dem Boden noch Unentdecktes. So ähnlich steht es um Beethovens Sinfonien. Oft gespielt, meistens wie ein alter Hut aufgesetzt, zu selten innovativ hinterfragt. Einem Erkenntnisbeben gleich kam der Auftakt zu einer Gesamteinspielung der neun Sinfonien mit Järvi und seinem Orchester, deren letztes Etappenziel für 2009 angepeilt ist. Kaum war Folge Eins erschienen, überschlugen sich die Rezensenten, erdachten neue Superlative, sprachen von Wegweiser-Funktion fürs 21. Jahrhundert.
K.WEST: Welche Voraussetzungen sind Ihnen bei einem Orchester wichtig, um einen spannenden Beethoven aufführen zu können?
JÄRVI: Es sind dieselben Qualitäten, die auch im menschlichen Leben zählen: die Fähigkeit zuzuhören, Flexibilität, Gemeinschaftsempfinden, Einfühlungsvermögen; zu wissen, wann man etwas sagen darf oder sich zurücknehmen muss.
K.WEST: Ihre kürzlich geäußerte Behauptung, wonach Sie und das Bremer Orchester etwas über Beethoven mitzuteilen hätten, was so bislang noch nicht gesagt wurde, klingt ziemlich forsch…
JÄRVI: Gemeint ist, dass wir nicht innerhalb einer bestimmten Kategorie bleiben wollen. Es gibt grundsätzlich zwei Wege, sich mit Beethoven auseinanderzusetzen: den traditionellen und eine historisch informierte Spielweise auf alten Instrumenten. Wir suchen nach dem dritten Weg, indem wir beides miteinander zu verbinden versuchen.
K.WEST: Sie lassen auf modernen Streichinstrumenten spielen, aber mit historischen Trompeten und Pauken.
JÄRVI: Ja, aber unser Mittelweg erstreckt sich nicht allein auf die Wahl der Instrumente, er erfolgt auch auf gedanklicher Ebene, da uns keines der beiden anderen Extreme weiterbringt.
Paavo Järvi, Sohn des Dirigenten Neeme Järvi, ist Este. Knochentrocken, will es scheinen. Wer mit ihm spricht, wähnt sich auf einer Einheitsstraße, ohne Biegung, ohne Auf oder Ab. Seine Rede ist klar, unmissverständlich, direkt. Kein philosophisch ambitionierter Plauderer, eher der Typ des Ingenieurs. Doch genauer betrachtet, entpuppt sich Järvi als jemand, dem der Schalk im Nacken sitzt und der zudem Führungsqualitäten besitzt. An Betätigungsfeldern mangelt es ihm nicht. Allein in Deutschland ist er Chef von zwei Orchestern, neben den Bremern auch beim HR-Sinfonieorchester in Frankfurt. Außerdem steht er den Sinfonikern von Cincinnati vor; ab 2010 wird er das Orchestre de Paris übernehmen.
K.WEST: Hat sich Ihr Beethoven-Bild in den letzten Jahren verändert?
JÄRVI: Das glaube ich schon. Wir tragen alle fest tradierte Vorstellungen mit uns herum: über die Persönlichkeit Beethovens und den Komponisten. Doch zu jedem Klischee gibt es die Ausnahme. Dazu zählt, dass Beethovens Musik sehr viel Wärme enthält, auch Humor und eine wunderbare Eleganz – die alle entschieden zu selten hörbar werden. Ich habe mit dem Orchester, nur für uns, eine Art Charakterisierung erstellt, die ergab, wie ungeheuer vielseitig er gewesen sein muss, ein Mensch mit etlichen Facetten. Das versuchen wir klanglich umzusetzen.
K.WEST: Inwieweit lassen Sie sich dabei von der oft hitzig geführten Debatte um Beethovens Metronom-Angaben leiten?
JÄRVI: Zunächst einmal ist Tempo grundsätzlich die Basis für eine erfolgreiche Realisierung geschriebener Noten. Ein falsches Tempo kann alles vermasseln. Andererseits gibt es kein Tempo Marke Einheitswert. Sie können zwei völlig unterschiedliche Tempi wählen und doch zu vergleichbar überzeugenden Ergebnissen gelangen. Es hängt davon ab, wie glaubhaft sie die Architektur eines Werkes vermitteln können.
K.WEST: Und bei Beethoven?
JÄRVI: Bei seinen Metronom-Angaben gibt es nichts misszuverstehen. Jede für sich ist korrekt. Es liegt mehr an den mangelnden technischen Fähigkeiten einiger Orchester, dass sie nicht umgesetzt werden. Wir folgen seinen Vorgaben sehr genau, ohne uns dadurch zu versklaven. Sie bilden den Ausgangspunkt, um Beethovens Welt besser zu verstehen.
Zum Vergleich rechnen wir die Zeiten vor, in denen namhafte Dirigenten beim Trauermarsch der »Eroica« unterwegs waren: Toscanini, der immer als Schnell-Meister galt, brauchte mehr als 16 Minuten, Furtwängler und Zelebrier-Künstler Celibidache kommen auf knapp 18 bzw. über 19 Minuten. Karajan und Günter Wand bewegen sich innerhalb einer Durchschnittszone von 14 bis 15 Minuten. Bei Järvis Kammerphilharmonikern jedoch ist schon nach 13,16 Minuten alles gelaufen. Gehetzte Trauer? Wer den sinfonischen Satz so hört, würde entschieden verneinen, sich zugleich von der Wucht in den Forte-Passagen mitgerissen fühlen. Järvis Beethoven ist kein Kabinettstück der Show-Effekte und virtuoses Effekthaschen, sondern eine in Rigorosität und Wandlungsfähigkeit gleichermaßen ergreifende Beethoven-Exegese.
JÄRVI: Wichtig ist der organische Aufbau, eine behutsam auf den Kontext abgestimmte Entwicklung. Das Tempo zeigt uns nur, welche Charaktere Beethoven darstellen möchte.
K.WEST: Alfred Brendel sprach mit Blick auf Beethovens Klaviersonaten einmal davon, dass die Herausforderung für einen Pianisten darin bestehe, in jedem Moment eine andere Rolle spielen zu müssen. Gilt das auch für den Dirigenten?
JÄRVI: Absolut. In jedem Satz begegnen wir derart vielen unterschiedlichen Persönlichkeiten, dass es zugeht wie in einer Oper. Die Unabhängigkeit dieser Charaktere darzustellen, ist Aufgabe aller Musiker, damit auch des Dirigenten.
K.WEST: Zählt dazu auch die Zuspitzung von Kontrasten, die bei Beethoven schärfer und abrupter folgen als bei jedem anderen Komponisten?
JÄRVI: Deswegen ist unser Beethoven-Bild auch lange verzerrt worden: Weil die Romantiker und ihre Erben diese Kontraste in ihrer Wirkung verkleinerten. Das ist meines Erachtens falsch. Beethovens Ziel ist Klarheit; er will, dass jeder Ton sich eindringlich vermittelt. Die Markierung von Gegensätzen ist dabei unerlässlich.
K.WEST: Was machen Sie, damit einerseits ein gewisses Risiko hörbar wird, andererseits das Ganze nicht manieriert erscheint?
JÄRVI: Das ist eine der Fragen, mit denen ich mich am häufigsten beschäftige. Ich erlebe so viele Aufführungen, in denen der stilistische Wille alles andere überragt, dass Substanz und Bedeutung darunter leiden. Manierismus darf nicht Oberhand über eine Interpretation erlangen. Wenn ich als Musiker eine bestimmte Stilistik anstrebe, muss ich zugleich den jeweiligen Kontext im Auge behalten.
K.WEST: Das bedeutet für die Praxis?
JÄRVI: Dass doppelte Flexibilität erforderlich ist: in Technik und Ausdruck.
Auch wenn Järvi erst seit zwei Jahren die Leitung der Kammerphilharmonie hat, kennen er und das Orchester sich jedoch schon von diversen Projekten und Tourneen. Wer durch frühere Programme stöbert, stößt immer wieder auf den Namen Beethoven. Als er erstmalig mit den Bremern gearbeitet habe, bekannte Järvi, sei er »wie vor den Kopf gestoßen gewesen, wie gut, wenig traditionell und frisch sie Beethovens Musik spielen« würden.
K.WEST: Verwenden Sie in Ihrer Probenarbeit gern Bildvergleiche?
JÄRVI: Nicht wirklich. In der »Pastorale« ist ja ein bildhaftes Programm vorskizziert. Aber Bilder sind grundsätzlich, ähnlich wie Metronom-Angaben, nur eine Basis. Sie geben Stimmungen vor, poetische Eindrücke, aber enthalten nichts Genaues. Wichtiger ist, dass die Musik selbst eine Geschichte erzählt.
K.WEST: Bilden die neun Sinfonien für Sie einen abgeschlossenen Kosmos?
JÄRVI: Beethovens sinfonische Musik, also unter Einschluss der Konzerte, ja. Vor allem die Gattung Sinfonie galt damals als offizielle Visitenkarte, während Kammermusik oder Klaviersonaten mehr als private Experimentierfelder dienten. Aber mit einer Sinfonie, mit einem Konzert konnte ein Komponist Aufsehen erregen, da wollte jeder nur das Beste abliefern. Insofern sind die Sinfonien eine Art Gipfelbesteigung.
Konzert der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen unter Paavo Järvi am 26. August 2007, 20 Uhr, in der Beethovenhalle: Weihe des Hauses, Violinkonzert in der Fassung für Klavier, Sinfonie Nr. 6; www.beethovenfest.de