// Seine Plattensammlung ist legendär. Als Theaterbesucher bekommt man sie in reicher Auswahl zu hören. Viele der schwarzen Scheiben habe er von seinem 16 Jahre älteren Halbbruder, sagt Jürgen Kruse, einem »Voll-Proletarier«, wie er beiläufig bis ehrfürchtig hinzufügt. In Kruses erster Arbeit am Bochumer Schauspielhaus, Wedekinds »Musik« (1995), kam plötzlich Esther Ofarims Stimme aus den Boxen. Engelsrein sang sie Leonard Cohens Ballade »You know who I am«; des weiteren wurde an diesem Abend unter anderem Carl Orff und die bajuwarische Spider Murphy Gang gespielt. Kruses Schallraum kennt keine Grenzen, er reicht von Bach bis Bill Haley, von Ella Fitzgerald bis Renate Kern. Auch sonst ist sein Universum ziemlich weit gefasst.
Kruse is back, zurück auf der nordrhein-westfälischen Bühne. Karin Beier hat ihn ans Kölner Schauspielhaus verpflichtet, wo er seine erste Premiere-Session herausgebracht hat. Neben Shakespeare und der antiken Tragödie interessieren ihn die US-Amerikaner, Psycho-Dramatiker wie Tennessee Williams, O’Neill und Albee, Sozialarbeiter wie Arthur Miller, Mythologen wie Sam Shepard. Oder ein Quergeist wie Jack Kerouac. Die Uraufführung von dessen »Beat Generation« ist für ihn ein Stück »Nichts über Nichts«. Es heiße nicht »Die Beat-Generation«, der direkte Artikel fehlt. Die Behauptung würde sich Kruse zudem verbitten, dass die Generation, der er selbst angehört, darin charakterisiert werden würde. Kerouac einziges Drama stammt vermutlich von 1959: Kruses Geburtsjahr. Ein Wassermann: 8. Februar – wie James Dean und wie Ronald Reagan. Der erste liegt ihm mehr. Gestürzter Gigant halt.
Auch an einem Spätnachmittag im Dezember singt in Kruses Kölner Theater-Wohnung, gelegen über einem krassen Tattoo-Shop, Esther Ofarim: eine Rarität, 1965, live in New York. Auf dem Tisch liegt als verlässlicher Informant das Musikmagazin Rolling Stone. Kruse überlegt mit leicht norddeutschem Akzent, ob er ein Bier trinken soll: »Ist ja schon dunkel draußen.« Hello, Darkness.
Er schiebt seinem Gast einen Kalender 2007 über den Tisch: eine dicke Kladde, beklebt mit Bildchen und Schnipseln, beschrieben mit Notizen, Skizzen, Daten. Seit 1974 betreibt Kruse die Aufzeichnungen. Jahr um Jahr trägt er ins aktuelle Poesiealbum seine jemals stattgehabten Premieren-Termine und anderes ein. Auf den Seiten befinden sich etliche Fotos schöner junger Frauen. Seine Schicksals-Revue? »Na, rate mal…«. Kein Ladykiller, kein Womanizer, eher ein Schmerzensmann, Opfer der fatal attraction, sagt das. Ein Humbert Humbert erwachsener Erotik. Warum führt er die Tagebücher? »Das hält mich wach – und macht mich ruhiger, um drei Ecken herum.«
Sein Theater weckt das Blues-Gefühl, seine Aufführungen sind Rock’n’Roll. Kruse ist bald 50 Jahre alt. In Hamburg geboren, war er bereits als 19-Jähriger Assistent von Peter Stein an der Berliner Schaubühne. Zuvor hatte er den Regisseuren Heyme und Christoph Nel über die Schulter geguckt. Er sei damals »rum geeiert« und durch den Kontakt zu dem Schauspieler Roland Schäfer, seinem Cousin, ständig nach Köln gereist. 1974 habe er Lorcas »Bluthochzeit« von Nel gesehen. Da hat es »bei ihm geklingelt«. 30 Jahre hat er die Vorstellung »mit sich geschleppt« – und dann den Lorca in Bochum inszeniert.
Wichtige Stationen der Karriere waren Freiburg und Frankfurt am Main. Seine Ibsen-»Hed-da Gabler« wurde 1994 zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Von 1995 bis 2000 gehörte er neben dem Regie-Grübler Dimiter Gotscheff zu Leander Haußmanns Bochumer Schauspiel-Intendanz. Von mindestens 50 Inszenierungen hat Kruse ein Dutzend an der Ruhr realisiert. Ihm gegenüber habe Haußmann »immer leicht ver-loren«, sagt er ohne Koketterie. Kruse ist ein scheuer Mensch. »Absurd, dass ich diesen Job habe. Ich kann überhaupt nicht reden. Ich bin eher intro.« Als Schüler habe er vielleicht ganze elf Mal den Mund aufgemacht, außer auf dem Pausenhof. Schulsprecher wurde er dennoch.
Wer zu Kruse ins Theater geht (oder pilgert), besucht eine schwarze Messe. Es kann einem vorkommen, als seien die Beteiligten von allen guten Geistern verlassen. Der Puls verändert sich, der Kopf ist in den Wolken. Kruse verabreicht eine Art Droge. Manchmal geraten Bühne und Parkett gemeinsam in Trance. Manchmal bleibt die Wirkung aus, man schaut bloß zu, ohne emotionale Beteiligung.
Das Gegenteil aber gibt es eben auch: Rausch, Taumel, Wonne, Entrückung, das Wunderreich der Nacht (Kruse müsste mal Wagners »Tristan« inszenieren). Das Gewebe von Konzentration und Entspanntheit, Hysterie und Hypnose, Wildheit, Trotz, Hitzigkeit und Coolness macht ihm keiner nach. Kruse benutzt Dramentexte wie Kompositionen, über die er eine zweite Partitur legt: seine eigene. Die scheint eigentlich nie abgeschlossen. Die Premiere ist da nur ein Gedankenstrich im Unendlichen. Am liebsten würde er selbst spielen: »Aber 1. nuschle ich, 2. kann ich nichts wiederholen.«
Seine Bühnen sind randvoll gefüllt mit Zitaten und Bildzeichen aus Kunstgeschichte, Literatur, Popkultur. Es ist, als wandere man durchs Museum, zugleich barocke Wunder- und spießige Rumpelkammer. Nicht alles lässt sich deuten, vieles entstammt privaten Passionen und Obsessionen. Kruse zeichnet auch, bunte, akkurate, filigrane Pop-Art-Dekors. »Am liebsten mache ich etwas voll, so dass möglichst wenig Weiß auf dem Papier bleibt.« Horror Vacui.
In Kölns Schauspiel-Schlosserei (Bühne Volker Hintermeier) klafft – unter den gefalteten Händen einer Madonna, durchweht von katholischer Luft, im Zeichen des Kreuzes, fahl beleuchtet von Erdkugeln, die globalen Zusammenhang stiften – der Rachen des Weißen Haies. Sonst ist nichts von Pappe. Sondern ein empfindliches neuronales Netz. Dann und wann ruckelt ein mechanisches Schaukelpferd. Sein Menschen-Theater setzt er überlebensgroß ins Licht, weil das Irdische beschränkt und vergänglich und die Leere des Universums zum Fürchten ist.
Kruse fanatische Happenings mit ihrem Soundtrack (der aktuelle umfasst 40 Titel) und ihrer bannenden Atmosphäre gleichen stillen Revolten. Kruse ist kein Revoluzzer, sondern Eigenbrötler. Und großer Sentimentaler. Eigentlich passt er nicht ins Stadttheater-System, das er maulig verteidigt als »letzten Vorposten der freien Welt«. Er passt in keine Schublade. Dabei hätte er nichts dagegen: »Ich wäre froh, wenn ich eine Schublade hätte. Da drin ließe sich gut überwintern.«
Kruse zum Reden zu bewegen, heißt, eine Art Eingriff am offenen Herzen vornehmen zu wollen. Jemand, der so ohne Vorteilsdenken und Taktik ist, hat Seltenheitswert am Theater. Es stapelt und schichtet sich in mühsamen Gesprächsansätzen, wie in seinen Bühnenbildern. »Alles hängt mit allem zusammen.«
»Beat Generation« soll Jack Kerouac (1922– 1969) an einem Wochenende verfasst haben. Nicht auf losen Blättern, sondern auf einer Papierrolle geschrieben, wie ein Endlos-Sprechband. Falls das nicht zur Legende der Methode des »Spontanen Schreibens« gehört. Übersetzt hat das Stück der Dramatiker Andreas Marber, der ihm auch einen üppigen Anmerkungs-Apparat unterschiebt. Unterm Strich liest man von der Bibel ebenso wie von Sinatra und Morrison, liest Augustinus und Aristoteles, Schiller, Büchner und Dostojewski, Rimbaud und Verlaine, Botho Strauß und Godard. Kruse, der in »Beat Generation« leicht angenervt »den Wegbereiter für alles, was vom Autor von ‚On the Road’ danach noch kam«, erkennen will, lässt sein Ensemble darüber hinaus zitieren und phantasieren. Je weiter sich die Aufführung von Kerouac entfernt, desto näher kommt sie dessen Zeitgefühl.
Drei Akte schildern einen Tag im Leben einiger erschöpfter und verwirrter Beatniks: zentriert um Buck (den sanften Künstler-Darling Lucas Gregorowicz), Milo (den hemdsärmeligen Märtyrer Paul Fassnacht) und Manuel (Jan-Peter Kampwirth als Kombi aus Fred Astaire und Stan Laurel). Zum Teil sind es Porträts der Kerouac-Freunde Neal Cassidy und Allan Ginsberg. Das Gruppenbild der Angels in America ergibt eine Momentaufnahme der frühen Sixties. Zwischen Aufstehen und Zu-Bett-Gehen begleiten wir die armen Teufel, Sünder, Spieler und Trinker während ihrer Wetten beim Pferderennen. Sowie im Austausch ihrer Erlebnis-Philosophie. Die Guys and Dolls (Kruse, wo sind deine großen Frauen-Figuren geblieben?) reden über Triviales, Alltägliches und Hochgeistiges (ein Bischof tritt auf). Getreu nach Becketts Motto: »Man muss Wörter sagen, solange es welche gibt.«
Der alchimistische Text funktioniert wie eine Jazz-Improvisation – Kerouac bezeichnete Charlie Parker als seinen »Buddha«. Für Kruse ist dieser Buddy Talk, der sich zur Assoziationskette verhakt, wie gemacht. Die große Flatter löst sich auf in Feeling, Melodie, Rhythmus. Auf den magic moment kommt es an – beim Wetten, in der Liebe, und auf der Bühne.