TEXT: GUIDO FISCHER
Als Pierre Boulez im März seinen 85. Geburtstag feierte, wurde er von Weggefährten mit Gratulationen und Lobeserhebungen bedacht – wir haben dies in der K.WEST-Ausgabe 3/2010 organisiert und dokumentiert. Unter den Verfassern war auch Philippe Manoury, der sich für seinen ehemaligen Lehrer im Besonderen wünschte, »dass das Publikum endlich bemerkt, dass er nicht nur Dirigent, sondern vor allem ein Komponist ist«.
Gewiss ist die jüngere Musikgeschichte reich an ähnlichen Doppelbegabungen, bei denen der Dirigierende tatsächlich mehr im Rampenlicht stand als der Komponierende, man denke an Leonard Bernstein oder Hans Zender. Was publikumswirksame Anziehungskraft angeht, überragt zwar auch der Pultstar Boulez immer noch den Schöpfer wegweisender Werke. Kaum einem anderen ist es gelungen, selbst beim konservativen Abo-Publikum die Scheu vor der Neuen Musik abzubauen. Gleich wo und gleich welches Orchester von Weltrang Boulez dirigiert, immer wieder setzt er zwischen Meisterstücke der klassischen Moderne auch Herausforderndes, Widerborstiges, Unbequemes. So wurde der Komponist Boulez selbst jener Öffentlichkeit ein Begriff, die seine ehemaligen Kollegen wie Luigi Nono und Karlheinz Stockhausen höchstens vom Namen her kennen.
Speziell in Köln kennt man die beiden Ansichten des Pierre Boulez schon lange. Spätestens seit 2000, als anläßlich seines 75. Geburtstags eine ausgiebige Boulez-Feier organisiert wurde, zu der auch die Pianisten-Freunde Daniel Barenboim und Maurizio Pollini eingeladen waren. An drei Abenden dirigierte Boulez damals das London Symphony Orchestra und vermittelte das Repertoire des 20. Jahrhunderts – von Mahler über Ligeti und Berio bis Boulez selbstverständlich. Bald darauf eröffnete er mit dem Chicago Symphony Orchestra – auf den Pulten lagen Debussy und Strawinsky – die MusikTriennale.
Vom Aufwand und Umfang her wird die MusikTrinnale 2011 eine Nummer kleiner ausfallen und neu heißen: »Acht Brücken – Musik für Köln«. Doch umso konzentrierter lässt sich das Langzeitphänomen Boulez bestaunen, dem drei Konzerte gewidmet sind. Zwei Spezialisten-Ensembles aus Köln (musikFabrik) und Amsterdam (Nieuw Ensemble) blicken in den übersichtlichen Werkkatalog des Musikers, der zentrale Kompositionen wie »Pli selon pli« und »Mémoriale« enthält, durchzogen von rhythmischer Vitalität, klanglicher Farbigkeit und formaler Stringenz.
Beim Eröffnungskonzert indes wird Boulez mit gewohnt schnellem Schritt ans Pult des Mahler Chamber Orchestra treten, um Schönbergs Violinkonzert zu dirigieren und mit »Pétrouchka« jenen Strawinsky-Hit, den er auch schon vor elf Jahren am selben Ort der Philharmonie aggressiv schneidig und brillant streitlustig angegangen war. Dieses Festhalten an einem Kernrepertoire und Komponistenkanon ist typisch für den Maître.
Warum sollte er als Dirigent seine Zeit mit Brahms (»bourgeois und selbstgefällig«) oder mit einem »unbedeutenden Talent« wie Prokofjew vergeuden, wenn es doch die nimmer ermattenden Visionäre Debussy und Strawinsky gibt. Bis zum heutigen Tag sind deren rhythmische Komplexe und expansiven Klangfarbendimensionen für ihn Inspiration und das musikalische Nonplusultra geblieben.
Obwohl, mittlerweile nähert er sich sogar Anton Bruckner oder im Liszt-Jahr 2011dessen Schwiegervater Richard Wagner, dessen Nibelungen-Saga er von 1976 bis 1980 zusammen mit Patrice Chéreau in Bayreuth zum Jahrhundert-»Ring« befördert hatte und dessen »Parsifal« er zwei Jahrzehnte danach mit und für Christoph Schlingensief herausbrachte. Doch überraschend sind solche Ketzereien nicht. Der bekennende Wassertrinker Boulez ist für Wendungen gut. Vielleicht überkommt es ihn noch und der Rebell schreibt die ersehnte erste Oper. Die Opernhäuser stehen ja schließlich noch …
8. bis 15. Mai 2011