TEXT: STEFANIE STADEL
Seit 2005 hat sie die Prozedur schon ein paarmal über sich ergehen lassen müssen. Inzwischen sieht die über mannshohe Dekovase im blau-weißen China-Look ziemlich lädiert aus. Doch es hilft nichts. Das Sammlerpaar Schürmann hat das gute Stück erneut verliehen, obwohl es genau weiß, was ihm in Bonn blüht. Wieder wird Kris Martin das arme, zerbrechliche Riesengefäß umkippen, um es anschließend mit viel Geduld und Klebstoff neu erstehen zu lassen. Noch ramponierter als zuvor wird sich das schlicht »Vase« getaufte Werk dann bei seinem Auftritt im Kunstmuseum präsentieren, zusammen mit rund 50 Arbeiten in Martins bisher umfassendster Einzelausstellung.
Zu den ältesten Stücken in Bonn zählt eine schlichte vergoldete Kugel. Sie könnte an die Arbeiten von James Lee Byars erinnern. Wäre da nicht der explosive Inhalt – er wird das in Form und Farbe so verführerische Objekt nach genau 100 Jahren zum Zerbersten bringen, wie der Künstler verheißt. Von der 2004 ersonnenen Kugel führt die Bonner Ausstellung bis ins Jahr 2011. Gerade mal fünf Schaffensjahre deckt sie also ab, denn viel mehr gibt es nicht zu zeigen. Und sehr viel zu sagen gibt es auch nicht über den Werdegang des 1972 geborenen Belgiers. Nur dass Martin Architekt werden wollte, bevor er sich als Autodidakt auf bildende Kunst verlegt hat.
Heute lebt er im Zentrum von Gent, nahe van Eycks Altar. Mit Frau und Kindern, aber ohne Atelier. Denn die meisten Ideen entwickelt Martin am Wohnzimmertisch. Oder unterwegs, am Flughafen zum Beispiel. Viel her machte jene Anzeigentafel namens »Mandi III«, die er 2006 bei der Berlin Biennale aufhängte. Der Künstler hatte sie getreu den Flapboards in den Terminals anfertigen lassen – allerdings ohne Buchstaben und Zahlen, ohne Orte und Zeiten.
Man kann wohl sagen, dass dieses nun völlig zweckentfremdet klackernde Objekt für Martin so etwas wie den großen Durchbruch brachte. Ein Jahr später bereits nutzte der Jungkünstler dann die Frieze Art Fair in London als publikumsträchtige Bühne, indem er 6000 Gästen und Ausstellern per Lautsprecher eine Minute der kollektiven Stille verordnete. Wenig später nur eröffnete seine Einzelausstellung im P.S.1 Contemporary Art Center, der New Yorker MoMA-Dependance für Zeitgenössisches.
Martin ist angekommen im Betrieb. Hat inzwischen auch gute Galerien an der Hand: in London wird er von White Cube vertreten, in Berlin von Johann König und in Düsseldorf schon seit vielen Jahren von Sies + Höke. Erst letzten Herbst widmete man ihm dort eine Soloschau und rückte eine riesige Globus-Halterung aus Messing in ihr Zentrum. Dort aber, wo sonst die Weltkugel sitzt, prangt eine gigantische Lücke.
Eine wenn zwar kleinere, aber dennoch entscheidende Leerstelle ist auch bestimmend für Martins Interpretation der berühmten Laokoon-Gruppe, die beinahe parallel zur Bonner Werkschau im Lehmbruck-Museum gastiert. Da sieht man den erbitterten Todeskampf von Vater und Söhnen. Der Grund für das Ganze – die Schlange – aber ist verschwunden.
Egal ob er Globen manipuliert, Bomben baut, Vasen klebt oder Menschen zum Schweigen bringt – immer wieder geht es Martin um Zeit und Vergänglichkeit, um Leben und Tod, um Gott und die Welt. Oft genug fragt er bei seiner Suche nach fundamentalen Wahrheiten nach der Möglichkeit von Religion, Glauben, Spiritualität.
Lauter Größen, die Martin auch als Sonderling erscheinen lassen. Kommen sie doch, so ausdrücklich, kaum mehr vor in der Gegenwartskunst. Werden dort nicht zuletzt wohl gemieden, weil die Gefahr zu groß scheint, in die Nähe von Pathos und Kitsch zu geraten. Es sind berechtigte Bedenken. Das zeigt sich auch mit Blick auf Martin, der mit seinen Arbeiten zuweilen haarscharf die Grenze streift. Zum Beispiel, wenn er den an die 100 Jahre alten Schnürstiefel eines gefallenen Weltkriegs-Soldaten samt stecken gebliebenem Fuß in die Vitrine hebt.
Doch hat der Künstler bisher immer wieder die Kurve gekriegt. Mit einer sehr eigenen Mischung aus sinnlichem Reiz, hintergründigem Humor und kühlem Konzept zieht er den Betrachter auf seine Seite. Weiß ihn zu verblüffen, wenn er mit manchmal minimalen Veränderungen seine Wahrnehmung auf den Kopf stellt, den Dingen plötzlich eine völlig neue Bedeutung gibt. So auch in Düsseldorf, wo Martin zur Neueröffnung nach dem großen Umbau der Kunstsammlung K20 am Grabbeplatz einen eigentlich funktionstüchtigen Heißluftballon in einen der neuen Ausstellungssäle quetschte. Auch im Bonner Kunstmuseum werden nun Ventilatoren die bunte Hülle des Ballons blähen, den flatternden Stoff an die Wände drücken. Jenen alten Traum vom Fliegen zum Erliegen bringen – vom Scheitern künden.
Mit dem breiten Blick kann die Ausstellung im Kunstmuseum so ziemlich alle Themen, Motive und Strategien in Martins Werk veranschaulichen: Oft sieht man den Künstler da auf gefundene Dinge zurückgreifen. Auf Steine am Strand, in deren Maserung er Buchstaben erkennt. Oder auf 700 Hülsen leerer Granaten aus dem Ersten Weltkrieg, die zunächst von Soldaten, später durch professionelle Graveure mit allerlei Blumen, Blättern, Ornamenten verziert wurden. Es sind Stücke, die ihre eigene Geschichte erzählen.
Oder der Künstler macht sich selbst an die Arbeit, wenn er über ein Jahr darauf verwendet, Fjodor Dostojewskis Roman »Der Idiot« abzuschreiben. Wort für Wort – allein den Name des Titelhelden, Fürst Myschkin, hat Martin jedes Mal durch seinen eigenen ersetzt.
Auch kommt es häufig vor, dass er Objekte aufwendig produzieren lässt, wie die Anzeigentafel vom Flughafen. Dabei holt der Künstler Vertrautes aus dem Kontext, beraubt es seiner Funktion. Nimmt ihm Wesentliches: Der Anzeigetafel die Buchstaben, dem Globus die Kugel. Oder einer mächtigen Glocke den Klöppel – das Ergebnis dieser Operation hängt jetzt im Hof vor dem Bonner Kunstmuseum und lässt uns vergeblich auf ein Läuten warten. Vielleicht wird der ein oder andere dabei ja beginnen, den leeren Klangkörper mit neuer Bedeutung zu füllen.
Das wäre sicher in Martins Sinne. Ja, er verlangt einiges von seinem Publikum: 50 Prozent mache er selbst, so Martin. Den Rest müsse der Betrachter erledigen, indem er das Werk mit eigenen Gedanken anreichere. Dabei hütet der Künstler sich, ihn zu fest an die Hand zu nehmen, seine Deutung in die eine oder andere Richtung zu lenken. »Je mehr du erzählen willst, desto weniger darfst du ausplaudern«, so seine These. »Wenn ich zum Beispiel hier in eine Kneipe käme und riefe: ›Achtung bitte, mein Großvater ist gestorben‹, dann dächten die Leute, ›armer Kerl‹ und unterhielten sich nach kurzer Zeit einfach weiter. Käme ich aber herein und riefe ›Tod‹, dann hätte das eine viel stärkere Wirkung.«
Vielleicht ist der Effekt ja vergleichbar mit dem Schauer, den jener silbern glänzende Totenschädel einem in Bonn über den Rücken treibt. Martin hat das Teil nach einem Scan des eigenen Kopfes gießen lassen und ihm den leicht makabren Titel »Still alive« zur Seite gestellt.
Klar, er ist ein Konzeptkünstler. Doch würde sich Martin auch selbst so bezeichnen? Er zeigt sich ziemlich gleichgültig. Vielleicht sei er ein Konzeptkünstler, ja. Allerdings bleibe es für ihn nie bei der reinen Idee, dem bloßen Konzept. »Das Ergebnis meiner Arbeit ist immer das Bild.« Deshalb beschreibt sich Martin lieber als Materialisten. Als einen, der am Gegenstand hängt. Weil wir verschwinden, während die Dinge bleiben, als kleine Zeugen möglicherweise von unseren Gedanken berichten. Es sei denn, sie explodieren irgendwann. Oder man sieht vor lauter Klebstoff die Vase nicht mehr.
Kunstmuseum Bonn, 2. Februar bis 22. April 2012. Tel. 0228/77 6260. www.kunstmuseum-bonn.de
Lehmbruck Museum, Duisburg, 10. Februar bis 17. Juni 2012. Tel. 0203/2833294. www.lehmbruckmuseum.de