Er ist sich selbst genug. Alles Außen ist eliminiert. In diesem Raum ist »er von anderen befreit«. Aber was für ein Raum! Das soll ein Raum von Robert Wilson sein? Dieses verwüstete Atelier, voll gestopft, ungeordnet, anarchisch. Auf der Bühne des Düsseldorfer Schauspielhauses ist das Atelier von Francis Bacon nachgebaut, das wir von Fotografien kennen. Ja, das passt: der grandiose Maler des 20. Jahrhunderts, Menschenbildnis-Zertrümmerer, der Gesichter zersetzt und zerrissen hat, und dem der Körper über alles ging, der ihm heilig war – und das Bildnis des Dorian Gray. Auf der Leinwand altert es zur Scheußlichkeit und widerlichen Fratze, während das ‚Original’ jung und schön bleibt. Die Verderbnis wird weitergereicht – Dorian Grays Teufelspakt. »Sein Körper war sein Instrument« heißt es in dem Text von Darryl Pinckney, einer tollen Montage aus Wilde-Zitaten und eigenem Zutun.
Manchmal hört man darin den Ton von Heiner Müller, mit dem Wilson eine (Arbeits-)Freundschaft verband. Es ist die zweite große selbstbewusste Wilde-Paraphrase nach Einar Schleefs »Salome« am selben Ort. Ein Text – ruppig, rau, rüde, giftig, brutal – wie ein Angriff, so wie Wildes Leben auch Attacke war gegen die Gesellschaft, deren Riten er zugleich perfekt beherrschte, so wie die Liebe immer Provokation ist. Manchmal tönen Sirenen aus dem Off oder das Geräusch von prasselndem Regen oder ein sehnender, todvertrauter Schubert-Streicher-Klang.
Der Meister ist zurückgekehrt mit diesem 90-minütigen Abend. Ein Solo für den Regisseur und Gestalter Wilson, für den alleinigen Interpreten Christian Friedel – und für Oscar Wilde, zu dem hin die Worte und Gedanken stetig überblenden. Der Fall Dorian Gray und der Fall Oscar Wilde. Wenige Songs (und auf die hätte man sogar verzichten können) und viel, viel Text. Ein Monolog, den wir im Stillen mit einiger Erschütterung zugleich als Epilog einer solitären Weltkarriere betrachten.
Der Immoralist und Killer der (nicht nur viktorianischen) Konvention Dorian, für den Gewissen Feigheit bedeutet, tritt an zur Reise ins Ich – bei seiner Selbstreflexion stößt er vor bis ans Herz der Finsternis. Eine Konfession ohne Reue, ohne Scham, ohne Nachsicht mit sich selbst. Wer kann schon behaupten, so gelebt zu haben? Oscar Wilde, ja, der! Der Abend spielt damit, dass Dorian (und sein Schöpfer) zur Projektionsfläche für die Menschen wurde, die seine Nähe suchen und in ihr zu Grunde gehen, was ihn nicht hindert, mit sich eiskalt ins Gericht zu gehen, zu kokettieren, zu spielen, zu posieren, zu sezieren. Friedel, anfangs mit Hut und im Mantel, wirkt, als sei der Snob in die Schwarze Serie geraten.
Teil Zwei des »walk with myself« macht Großreine, bis die Bühne clean und keimfrei weiß ist für Wilsons Schattentheater, sein Zeremoniell der Geste, für strahlendes Licht und Scheinwerfer. Aus dem räudigen Kater Dorian / Friedel ersteht eine gestriegelte Artistocat. »Was im Gefühl zuerst da ist, kommt in der Form zuletzt.« Ich und Ich und Ich und noch einige mehr: Zierpuppe, Egoshooter, Buffo und Weißclown, Professor für Ästhetik und Propagandist der Antithese, naiv und raffiniert, kaputt und splendid, Faust und Mephisto in einer Person – der talentierte Mister Gray.
Der dritte Teil beginnt, als hätten sich Kraftwerk und Liberace für ein Konzert zusammengetan. Dorian gerät in den Strudel seiner selbst und wird vom Sturm, den er selbst entfacht, verweht. Er ist angekommen in der Dissonanz seiner sublimen Existenz. Plötzlich schwebt Friedel hoch in den Lüften, aufgehängt mit Mitteln der Mechanik, aber in Wahrheit emporgehoben vom Theaterzauber. Dann erscheint ein trauriges Kinder- und Winterbild, flackernd unscharf: ein einsames Häuschen im Schnee. Ein Kälteschock. So sieht Robert Wilsons De Profundis aus.
Zu viel Geschmack, zu viel Stilvermögen, zu viel Originalität – wie soll das enden? Für den einen, den Schriftsteller, Ästheten und Künstler seines Lebens, Oscar Wilde, endet es im Zuchthaus, Exil, Elend, in einem furchtbaren Höhensturz und im Tod mit 46 Jahren, als das neue Jahrhundert eben beginnt. Der nunmehr 81-jährige amerikanische Universalkünstler Robert Wilson hingegen wird zu einem der prägendsten und individualistischsten Theatermacher – die maladie du style für ihn zum Heilsplan. Für Oscar Wilde, schreibt Richard Ellmann in seiner epochalen Biografie von 1988, gebe es »zwei Grundmomente« in der Kunst: ihr vollkommenes Geschieden-Sein vom Realen und die Vermittlung von Bildern. Beides gilt nicht weniger für Bob Wilson, der seinen »Dorian« mit einem goldenen Portal, roten Vorhang und Stepptanz von Christian Friedel ins Finale bringt. Das ist beinahe das Gleiche wie Fausts »Gerettet«. Ovationen im Schauspielhaus.
Aufführungen: 11., 18. und 19. Juni, Düsseldorfer Schauspielhaus