Wir gehen leicht verloren und sind »nicht haltbar gemacht«, wie Thomas Brasch in einem Gedicht schreibt. Die Welt, und sei es nur ein Gewerbegebiet mit einem Baumarkt, ist kein übersichtlicher Ort. Eine Mutter sucht ihr Kind, der kleine Nathan ist verloren gegangen in den Gängen zwischen den Regalen. Auch draußen zunächst keine Spur, bis ein Mitarbeiter des Geschäfts ihr den Jungen zurückbringt.
Was für eine Gegenwelt dazu das Haus der Familie Kappenberg mit Marta, Roland und Nathan – sie Ärztin in einer Geburtsklinik, er Erbe, Autor und älter (»Die Beiden sind mir zugelaufen«, scherzt er). Ein schönes altes Gebäude mit grünen Fensterläden unter dem spitzen Giebel, innen viel dunkles Holz, knarzende Treppen, gemütlich schummeriges Licht, ein Kamin und zum Gänse-Abendessen Gäste und eine Mozart-Sinfonie.
Vor der Tür steht der Wald und schweigt. Ein Platz wie im Märchen. Fern der Großstadt. Die Mutter liest Nathan die Geschichte vom Kleinen Prinzen und dem Fuchs vor. Aber in Märchen gibt es den bösen Wolf – die Gefahr, das Andere, den Einbruch des Bedrohlichen.
Der Mann, der Nathan an die Hand genommen und zurückgebracht hatte – er heißt Valmir (Florist Bajgora), er sei Albaner und in Sarajevo geboren, sagt er – ist plötzlich im Haus und repariert die morschen Rohre im Bad. Er schleicht durch die Zimmer, beobachtet, taxiert, steht in der Küche am Herd hinter Marta.
Roland (Ulrich Matthes) ist mitteilsam, leutselig und arglos, die Frau (Susanne Wolff) misstrauisch, zumal wenn sie, die selbst zwei Jahre in Albanien gearbeitet habe, mit Valmir in seiner Heimatsprache zu reden versucht. Sie will Valmir loswerden, nicht nur als Handwerker, sondern überhaupt als Person, der etwas zu wissen scheint aus ihrer Vergangenheit. Aber Valmir lässt sich nicht abschütteln. Er hat gute Gründe.
Nathan (Elia Gezer) ist das Kind einer auf sich allein gestellten albanischen Mutter gewesen, Marta hat ihr den Neugeborenen ‚abgehandelt’, an Kindesstatt angenommen und als ihren Sohn ausgegeben. Valmir erpresst sie und will noch mehr Geld als die Summe, die Marta in Albanien gezahlt hat: »Ist doch alles Kredit hier«, sagt er. Das arrogante westliche Wertesystem, so korrumpiert es sein mag, es stellt eine Lockung dar, seine Mechanismen anzuwenden und von ihnen zu profitieren.
Einmal sehen wir Marta und Valmir im Spiegel, der uns ihr Doppelbildnis zurückwirft: die Kältefläche des Spiegels als Instrument der Selbsterkenntnis, Identitätsvergewisserung, auch der Spaltung, auch der Scheinproduktion. Er kann Wahrheit und Lüge zeigen.
Im Verlauf des Geschehens bekommt die Ehe feine Risse, nein, sie hatte sie schon zuvor, nun werden sie sichtbar durch die Anwesenheit des Dritten. Verletzungen, Heimlichkeiten, Bitternis, das Gefühl von Verlassen-Sein – Sebastian Ko inszeniert »Geborgtes Weiß« nach allen Regeln der Kunst, baut Spannungsfelder, legt Ruhezonen an, installiert dramatische Klippen und schaltet einige Flashbacks dazwischen, die den Geburtsvorgang von Nathan wiederholen. Mit leisem Grollen (und akzentuiert musikalischer Dramatik) kündigt sich das Unheil an, das die kultivierte Bürgerlichkeit und Sittlichkeit aus dem Gleichgewicht und zum Bersten bringt, wie wir es aus den besseren Filmgeschichten des Vivisekteurs Claude Chabrol kennen. Das aschige Glühen des betrogenen, sich subtil rächenden Roland, wie ihn Matthes verkörpert, die nervös wachsame Gehetztheit Susanne Wolffs und die gequälte Natur Valmirs bettet der Film in eine herbe Herbstlandschaft, in der es nicht verwundern würde, wenn in ihr die Hexen aus »Macbeth« auftauchen oder der Sturm aus dem »Lear« aufziehen würden.
»Geborgtes Weiß«, Regie: Sebastian Ko, D 2022, 98 Min., Start: 21. Juli