Das Theater ist »die Schwester der Politik«. So zitiert Günther Rühle den aus dem Exil heimgekehrten Willy Brandt. Der erste sozialdemokratische Bundeskanzler ist im September 1972 im Düsseldorfer Schauspielhaus zu Gast, ganz Beginn der – glücklosen – Intendanz von Ulrich Brecht, dem Nachfolger des Patriarchen Karl-Heinz Stroux. Die Geschwisterlichkeit von Kunst und Politik gilt wohl für keine Epoche mehr, als für die 60er und frühen 70er Jahre, als die bundesrepublikanische, vielfach Kontinuitäten pflegende Ordnung und Ruhe vehement und radikal kritisch aufgestört wird. Es stöbert kräftig, an den Universitäten, im Film, auch an den Theatern. Die Nachkriegsgeneration hebt die Hand oder Faust, auch wenn es noch aus der Weimarer Republik herüberragende, überwältigende Figuren wie Fritz Kortner und Jürgen Fehling gibt. Das Regietheater, das es schon vorher gab, ohne so genannt zu sein, setzt sich durch.
Der dritte Band von Günther Rühles Geschichte des »Theaters in Deutschland« beginnt 1967 und reicht bis 1995. Die Buch-Trilogie ist eine Ruhmestat und – allein für sich genommen – eine Lebensleistung. Rühle (1924-2021) ist auch und gerade in Band III als Autor, Kritiker, Zeitzeuge und selbst Theatermacher (er war Intendant in Frankfurt am Main von 1985 bis 1990) von imponierender Kenntnis, Gedankenschärfe und erkennungsdienstlicher ästhetischer Urteilskraft. Er erfasst gesellschaftspolitisch die jeweilige Gegenwart, zeigt sich offen für die »Revolte des Materials« und besitzt hohes Sprachbewusstsein.
Die Krise der restaurativen und repressiven Gesellschaft, Amerikas Sündenfall Vietnam, die Versteinerung des Sowjetblocks, Schuld und Schweigen der Väter, das Drängen in die Lebenswahrheit besorgen den Wandel. Karl-Heinz Bohrers Phänomen der »Plötzlichkeit« findet seine Stunde. Wir treffen in fünf Kapiteln auf Miniaturen und Porträts, Analysen, Sondierungen und Bilanzierungen. Zunächst erleben wir den Abschied der Alten (Barlog in Berlin, Schalla in Bochum, Stroux in Düsseldorf, Helene Weigel am Berliner Ensemble etc.), die Klassikerwerdung von Beckett und die Ankunft der Jungen. Überall, in der Provinz, in den Metropolen und in der Verschiebung von Theaterzentren (Beispiel: Kurt Hübners Bremen, Bochum), in Westdeutschland und in der DDR (deren Ende und Wende später von Rühle in dramatischen Szenen gebannt wird), in Basel und Zürich vollziehen sich Positionswechsel an den Häusern. Es entstehen neue Modelle (etwa durch Mitbestimmung in Frankfurt bei Peter Palitzch), gegründet wird die Schaubühne in Berlin mit Peter Stein und den Seinen. Manches scheitert, manches bleibt – bis heute.
Ingeniöser Zeichner von Rollen
Diejenigen, die für Jahrzehnte unser Theater bestimmen, nehmen Anlauf, treten an und auf, zuvörderst im Mit- wie im Gegeneinander die beiden Peter: Stein und Zadek. Luc Bondy, Klaus Michael Grüber, Wilfried Minks, Ivan Nagel als dramaturgischer Kopf, Hans Neuenfels, Claus Peymann; demnächst das »Ernüchterungsgenie« Castorf. Im Gefolge kommen die Autoren, darunter Peter Weiss, Sperr, Kroetz und Fassbinder (in Personalunion Dramatiker, Regisseur und Schauspieler), Thomas Bernhard, Tankred Dorst, Botho Strauß, natürlich George Tabori, unbedingt Heiner Müller. Ja, und es zieht sich die Leuchtspur der Schauspieler*innen. Der Untertitel des Buches stellt gleichberechtigt nebeneinander »Ereignisse und Menschen«. Rühle ist ein ingeniöser Zeichner von Rollen und ihren Interpreten*innen. Wunderbar seine Intensität von Intellekt und Empfinden, mit der er eine Schauspielerin wie Edith Clever liebend betrachtet, solitäre »Denkträumer« wie Grüber und Einar Schleef würdigt, Kortner das Denkmal setzt, Schlusspunkte formuliert wie zu Bob Wilson. Und dahinter die Leere, die Krise, der Schwund, Sinn- und Werteverluste, das Weiter des Theaters.
Dass Günther Rühles Chronik, Lesebuch und Nachschlagewerk Fragment geblieben ist und durch seinen Tod Ende 2021 vor der Zeit endigt, ist die einzige bedauernde Einschränkung – Fragment, trotz Fülle und Weite: geschrieben für die Mitwelt und für die Nachwelt.
Günther Rühle, Theater in Deutschland 1967-1995, Herausgegeben von Hermann Beil und Stephan Dörschel, S. Fischer, geb. 796 Seiten, 98 Euro