// Natürlich, er konnte auch ganz bescheiden sein, vor allem, wenn er über die Bedeutung des Menschen im Weltganzen sprach: Da war selbst er nur ein Rädchen im universellen Getriebe. Aber was für eins!
Die Gewissheit, mit der Karlheinz Stockhausen vor zehn Jahren den weiteren Verlauf seines Lebens als Komponist im Detail darlegte, hat seinen Gesprächspartner damals nachhaltig irritiert. Nach Werken über das Jahr, die Monate und – zu jenem Zeitpunkt noch in den letzten Zügen – nach der Arbeit an den sieben Wochentagen im monumentalen Opernzyklus »Licht« wolle er zunächst jede Stunde des Tages musikalisieren, dann die Minuten und schließlich, als letztes Werk, eine einzelne Sekunde: 512 Einzelmomente, wusste er schon anno 1998 zu sagen, würde er für die Dauer eines kurzen Augenblicks dann übereinander schichten, den Zeitverlauf somit gewissermaßen in die Senkrechte bringen. Der Hörer, so träumte er weiter, solle sich aus den einzelnen Teilen einen Klang dann selbst zusammensetzen können.
Da sprach also jemand wie selbstverständlich über die anstehende Arbeit von vermutlich zwei oder drei Jahrzehnten und war doch schon stolze 70 Jahre alt. Stockhausens unbedingter Wille, »am Drücker« zu sein, wie er einmal sagte, die Vehemenz, mit der er sich, sein Schaffen, dessen Präsentation und alle daran Beteiligten verplante, sein Verlangen nach möglichst lückenloser Kontrolle wurde allseits bewundert und gefürchtet. Die eigene Verweildauer auf diesem unseren Planeten mitzubestimmen, war ihm am Ende aber doch nicht gegeben. Von den 24 Stunden hat er in seinem letzten Zyklus »Klang« nur noch 21 komponieren können, seinen Traum von den musikalischen Minuten und der einen vertikalen Sekunde müssen andere für ihn weiter träumen.
Vom genauen Laut seiner letzten Worte am 5. Dezember 2007 kursieren verschiedene Versionen. Er habe einen neuen Weg gefunden zu atmen, soll er gesagt haben. Jedenfalls ist er ganz offensichtlich vom Tod überrascht worden. Und nicht nur er: Wer ihn sah und traf, war bis zuletzt erstaunt über die enorme Schaffenskraft und geistige Schärfe, mit der er wie eh und je zu Werke ging. Von Altersmüdigkeit keine Spur.
Unter allen Lebewesen zeichnet den Menschen aus, dass er Neues erfinden kann. Etwas als Erster gedacht und gemacht zu haben, war für Stockhausen mindestens so wichtig wie die Qualität dessen, was aus der Erfindung hervorging. Wer ihm gegenüber zu behaupten wagte, dass das ein oder andere, was er für sich selbst reklamierte, womöglich doch von einem anderen stamme (die Idee eines bis in den Schwingungsverlauf durchserialisierten Werks etwa von seinem einstigen Freund Karel Goeyvaerts), der konnte sich auf einiges gefasst machen: Eine solche Auseinandersetzung mit Stockhausen wahrte selten die Form eines geordneten Diskurses.
Viele hat er mit der Gewalt seiner Ansprüche verschreckt und eingeschüchtert, andere aber gleichzeitig magisch angezogen. In den 1950er und 1960er Jahren vor allem, in seiner künstlerisch wohl fruchtbarsten Zeit, kamen Komponisten aus allen Ländern der Erde, um in seiner Nähe zu sein: zum Elektronischen Studio des WDR nach Köln, dessen Leitung ihm schon mit Mitte zwanzig übertragen worden war, oder zu den Darmstädter Ferienkursen, die er als Lehrer und Vorbild lange dominierte. Die Geschwindigkeit, mit der Stockhausen damals ein Meisterwerk nach dem anderen vorlegte, vom elektronischen »Gesang der Jünglinge« (1953) über das Orchesterwerk »Gruppen« (1955), den Schlagzeug-»Zyklus« (1959) und die »Kontakte« (1960) bis hin zu den beiden »Mikrophonien« (1964/65), den »Hymnen« (1966–69) und »Mantra« (1970), kennt in der Musikgeschichte wenige Vergleiche.
Mit seinen Ressourcen ist Stockhausen denkbar ökonomisch umgegangen: er hat sie vor allem für sich und seine eigene Musik verwandt. Was um ihn herum komponiert wurde, fand selten seine ungeteilte Aufmerksamkeit, was vor ihm komponiert worden war, eigentlich nie. Diese radikale Beschränkung aufs Selbermachen und das weitgehende Desinteresse an der sogenannten Tradition ist mit dem Label »Egomanie« gleichwohl nur unzureichend etikettiert. Am 22. August 1928 in Mödrath bei Köln geboren, aufgewachsen in ärmlichen Verhältnissen, nahm der Zweite Weltkrieg dem Heranwachsenden den Vater, der Rassenwahn der Nazis die schwermütige Mutter. In der vielbeschworenen »Stunde Null« sah Stockhausen wie so viele andere die Chance zum Neubeginn ohne Blick zurück. Anders als andere hat er es beim einmaligen Neuanfang dann nicht bewenden lassen. Neu anzufangen, dazu noch alleine, wurde für ihn zum Lebensprinzip. Nach einer kurzen Ausbildung zum Schulmusiker in Köln, dann beim Komponisten Olivier Messiaen in Paris und dem Phonetiker Werner Meyer-Eppler in Bonn, ging er – der bald von allen Seiten Umjubelte – innerlich weiter auf Abstand zum Rest der Welt. Für einen Moment nur verneigte er sich vor dem großen Kollegen Anton Webern, danach bezog sich Stockhausen – offiziell zumindest – nur noch auf einen: Stockhausen.
Auch der ungeheure Erfolg des jungen Komponisten, der sich fast über Nacht an die Spitze der europäischen Avantgarde setzte, konnte nicht darüber hinweg täuschen, dass Karlheinz Stockhausen mit der Moderne, die ihn feierte, eigentlich wenig gemein hatte: Seine spektakulären Frühwerke, die Experimente mit musikalischer Elektronik, mit Verräumlichung oder offener Form, die die Musikgeschichte gewissermaßen im Halbjahrestakt revolutionierten, waren Ausdruck eines tief-religiösen Empfindens. Sogar die Idee des Fortschritts, die er unnachgiebig wie kein anderer propagierte, wurde lange missverstanden: Nicht der Naturbeherrschung sollte dieser Fortschritt dienen, sondern der menschlichen Vervollkommnung.
In den späten 1960er Jahren dann begann Stockhausens langer Weg von der Mitte des Musiklebens an dessen Rand. Esoterisches Gedankengut, darunter die Science-Fiction-lastige Kosmogonie der sogenannten »Urantia Brotherhood«, einer kleinen Sekte aus den USA, drang immer tiefer hinein in seine Arbeit. Was zunächst noch vom Zeitgeist der Hippiekultur gedeckt wurde, sah sich bald schon hämischer Kritik ausgesetzt. Stockhausens gelegentliche Beteuerungen, nur ein Empfangsgerät kosmischer Schwingungen zu sein und seine Verarbeitung der Urantia-Ideologie in »Licht« verschlossen ihm immer mehr Türen. Zwei der sieben jeweils mehrstündigen Teile des Opernzyklus warten bis heute auf ihre Uraufführung.
Stockhausen als Spinner abzutun, war nun ein Leichtes. Dabei blitzt inmitten von all dem mystischen Nebel um die »Licht«-Protagonisten Michael, Eva und Luzifer auch im Spätwerk immer wieder das Genie jenes Mannes auf, von dem nach dem Krieg nicht wenige gehofft hatten, er könne nach Wagner und Schönberg das Leuchtfeuer der deutsch-österreichischen Musikkultur in ein neues Zeitalter tragen. Der nationalistische Beigeschmack dieser Hoffnung wird ihm – sofern sie ihm überhaupt bewusst war – gewiss übel aufgestoßen sein, die Zuversicht in sein schöpferisches Vermögen kaum.
Was von einem Künstler bleiben wird, lautet eine beliebte Frage an dessen Grab. Stockhausen ist am 5. Dezember des vergangenen Jahres in seinem Haus in Kürten bei Köln gestorben, doch die Frage wird vermutlich lange offen bleiben. Für einen Nachruf ist noch nicht die rechte Zeit. Wohl aber für einen Glückwunsch: Alles Gute zum 80. Geburtstag! //