Christine Wahl ist Sprecherin des Auswahlgremiums der Mülheimer Stücke 2023, das acht herausragende Inszenierungen in die Ruhrgebietsstadt eingeladen hat. Ein Gespräch über Themen und Trends.
kultur.west: Frau Wahl, die Festivalleiterin Stephanie Steinberg hat beim Dank an die Jury gesagt: »Ihr Pensum an Text-Seiten und Bahnkilometern war enorm.« Können Sie ungefähr beziffern, wie viele Kilometer und Seiten zur Auswahl geführt haben?
WAHL: Wir haben das mal überschlagen: 169 Stücke standen zur Auswahl – was bei einem Durchschnittswert von 62 Seiten pro Text insgesamt 10.478 ergibt, also 29 Seiten neue Dramatik pro Tag. Unser Fernreiseaufkommen belief sich auf 42.000 Kilometer – zu denen die Fahrrad-, Vespa-, U- und Straßenbahn-Strecken an unseren jeweiligen Wohn- und Arbeitsorten, also Berlin, München, Basel und Wien, natürlich noch hinzukommen.
kultur.west: Sie sagten, die ausgewählten Stücke lassen sich überhaupt nicht auf einen Nenner bringen. Kann man wirklich gar keine thematischen oder ästhetischen Trends ausmachen?
WAHL: Ich halte die Abwesenheit eines gemeinsamen Nenners ja für ein Qualitätsindiz und insofern für einen erfreulichen Tatbestand. Die Themen der Texte reichen von Klimawandel und Krieg über höchst innovative Wirklichkeitsaushebelungsstrategien im Digitalzeitalter bis zur Steuerfahndung und dem mutmaßlich originellsten Fluchtweg aus der Selbstoptimierungsgesellschaft, den die Literatur in jüngerer Zeit hervorgebracht hat. Bei den Formen steht das Handlungsdrama neben der Textfläche, die Überschreibung neben dem Singspiel. Wenn es etwas gibt, was die Texte eint, dann ist es ihre Lust und Fähigkeit, sich versiert auf den Debattenfeldern unserer Tage zu bewegen. Allerdings nicht, um einfach vermeintliche Modethemen abzuhaken, sondern um den Verengungen, Verkürzungen oder auch Vereinnahmungsversuchen, die diese Debatten im gesellschaftlichen Sprechen nicht selten erleben, eine genuin künstlerische Komplexität entgegenzusetzen.
Gibt es ganz neue Themen in der deutschen Dramatik? Ich frage zum Beispiel mit Blick auf »Sistas!«.
WAHL: Die Beobachtung, von der ich gerade sprach – das wache Unterwegssein in unmittelbar gegenwärtigen Kontexten – beschränkt sich nicht auf spezifische Themenfelder. Es trifft auf die Social-Media-getriggerten Kommunikationsmechanismen, von denen Clemens J. Setz’ »Triumph der Waldrebe in Europa« handelt, genauso zu, wie auf die Rassismus-, Sexismus- und Klassismusdiskurse, die »Sistas!« zum Thema hat. Oder auf Caren Jeß’ »Katze Eleonore«, hinter der sich eine Immobilienmaklerin verbirgt, die die mutmaßlich radikalste Exit-Strategie aus der Gesellschaft wählt, die überhaupt möglich ist – wenn man vom Suizid einmal absieht.
kultur.west: Warum ist dieser Jahrgang so außergewöhnlich reichhaltig? Hat das auch mit der Corona-Zeit zu tun, die für einen Stau gesorgt hat – und 2022 ist alles wieder ins Rollen gekommen?
WAHL: Gute Frage! Mit unseren 169 Stücken bewegen wir uns tatsächlich fast exakt auf dem Niveau des Vorjahres – also genau jenes Zeitraumes, in dem quasi im Akkord Premieren nachgeholt wurden, die man während des Lockdowns geprobt hatte, aber nicht zeigen konnte. Verglichen mit den letzten vorpandemischen Jahrgängen, in denen die Zahl etwa zwischen 110 und 130 pendelte, ist also wirklich ein signifikanter Zuwachs zu verzeichnen. Wir werden sehen, wie sich das weiterentwickelt. Jedenfalls geht es der Gegenwartsdramatik augenscheinlich gut!
kultur.west: Leider kann ja die Volksbühnen-Inszenierung »Geht es dir gut?« von Pollesch und Hinrichs wegen des nicht adaptierbaren Bühnenbilds, das unter anderem eine große Rakete beinhaltet, nicht gezeigt werden. Es ist ein doch sehr anregendes, das Leben feierndes Lamento über die Zeit der Isolation. Gibt es denn andere Stücke, die sich mit der Corona-Zeit auseinandersetzen?
WAHL: »Geht es dir gut?« behandelt die Pandemie, neben vielen anderen Themen, tatsächlich ganz explizit – und trotzdem subtil. Implizit, so ist mein Eindruck, spielt der Corona-Einschnitt durchaus in vielen neuen Stücken eine Rolle: im Sinne eines veränderten Wahrnehmungs- und Erfahrungshintergrundes. Da geht es zum Beispiel um Isolationsmomente, Diskursverschiebungen oder – am deutlichsten vielleicht in Katja Brunners »Kunst der Wunde« – um Akzentverlagerungen im individuellen wie institutionellen Sprechen.
kultur.west: Die meisten eingeladenen Autor*innen waren schon einmal bei den Stücken. Ist das gewollte Kontinuität oder hat die deutsche Dramatik ein Nachwuchs-Problem?
WAHL: Die »Stücke« sind ja kein kuratiertes Festival, bei dem die Auswahl entlang bestimmter thematischer oder struktureller Gesichtspunkte getroffen wird. Sondern eine Jury aus Theaterkritiker*innen – die einzige übrigens neben der des Berliner Theatertreffens – nominiert die Theatertexte, die aus einem großartig lese-, reise- und diskussionsintensiven Auswahlprozess als die sieben oder acht bemerkenswertesten der Saison hervorgegangen sind. Insofern ist so etwas wie »Kontinuität« weder gewollt noch ungewollt, sondern schlicht kein Kriterium für uns. Dieses Jahr gibt es mit Golda Barton, der Autorin von »Sistas!«, tatsächlich nur eine Debütantin. Im letzten Jahr waren dagegen mehr als die Hälfte der Nominierten zum ersten Mal in Mülheim dabei, im vorletzten ebenso. Man muss sich um den dramatischen Nachwuchs also keine Sorgen machen.
kultur.west: Die Hälfte der nominierten Inszenierungen kommt aus Berlin, die Volksbühne ist sogar zweimal vertreten. Ist die Hauptstadt unschlagbar, was neue Dramatik angeht?
WAHL: Leider nicht – sage ich hier als Wahlberlin; in der neuen Dramatik genauso wenig wie beim Flughafenbau. Aber im Ernst: Auch hieraus lässt sich kein Trend ableiten. Dieses Jahr kommen vier Inszenierungen aus Berlin, in den beiden vorhergehenden Auswahlrunden war die Hauptstadt jeweils nur einmal vertreten, 2022 sogar lediglich als ein Koproduktionsort unter vielen bei Helgard Haugs freier Produktion »All right. Good night«. Apropos freie Produktion: Um eine solche handelt es sich auch bei Golda Bartons »Sistas!« vom Theaterkollektiv Glossy Pain, die zwar in der Volksbühne gespielt wird, aber anders als René Polleschs und Fabian Hinrichs’ »Geht es dir gut?« keine genuine Eigenproduktion des Hauses ist.
kultur.west: Elfriede Jelinek ist bereits zum 22. Mal in der Auswahl – völlig zurecht mit »Angabe der Person«, das als irre gutes Schauspielerinnen-Theater inszeniert ist. Können Sie die Faszination ihrer Arbeit beschreiben?
WAHL: Die Literaturnobelpreisträgerin ist zweifelsohne eine Ausnahmedramatikerin – zumal eine überaus produktive, von der tatsächlich fast jedes Jahr mindestens ein neues Stück uraufgeführt wird. Aber auch davon landet natürlich nicht jedes in der Mülheim-Auswahl. Am diesjährigen Jelinek-Text »Angabe der Person« ist sicher besonders interessant – und auch ungewöhnlich –, dass der Schreibanlass ein sehr persönlicher war: Der Ausgangspunkt ist das Finanzamt, konkret ein steuerliches Ermittlungsverfahren gegen die Autorin, das inzwischen längst eingestellt wurde, aber mit der Überprüfung privatester Unterlagen einherging und für Jelinek zum textlichen Sprungbrett wird, um die Geschichte des jüdischen Teils ihrer Familie zu erzählen sowie die Wege globaler Kapitalströme zum einen historisch zurückzuverfolgen und zum anderen engzuführen mit Skandalen unserer Tage, Stichwort Wirecard und Cum-Ex.
Christine Wahl
Die Sprecherin des Auswahlgremiums der »Erwachsenen-Stücke« der 48. Mülheimer Theatertage kam 1971 in Dresden zur Welt. Nach dem Studium der Germanistik, Philosophie und Soziologie in Freiburg und Berlin, arbeitete sie als Autorin und Kritikerin unter anderem für Theater heute oder den Tagesspiegel. Sie war bei Theater der Zeit und ist seit 2022 Redakteurin bei Nachtkritik. Als Jurorin wirkte sie für das Theaterfestival Impulse, den Hauptstadtkulturfonds, das Berliner Theatertreffen und aktuell für das Festival für junge Regie Radikal Jung.
Die 48. Mülheimer Theatertage (Stücke) zeigen auch ein umfangreiches Kinder- und
Jugendprogramm
13. Mai bis 3. Juni
Stadthalle und andere Spielorte in Mülheim