TEXT: GUIDO FISCHER
Wenn Nikolaus Harnoncourts Augen diesen gewissen fordernden Laser-Blick bekommen, kann man nur Obacht geben. So geschehen etwa 2007, als das Publikum sich in Graz auf eine vergnügliche Landpartie gefreut hatte. Auf dem Programm des Styriate-Festivals stand Joseph Haydns Oratorium »Die Jahreszeiten«. Doch wie schon oft bei Harnoncourt zogen Naturgewalten und ein musikalisches Unwetter auf, besonders im »Sommer« mit seinen instrumentalen und chorischen Blitzeinschlägen. Der Klangbilderstürmer am Pult war ganz in seinem Element. Was dramatische Durchschlagskraft und fesselnde Energie angeht, hatte er gegenüber seinen früheren »Jahreszeiten« sogar noch zugelegt. 78 Jahre alt war Harnoncourt bei dem Live-Mitschnitt. Und von Altersmilde keine Spur. Wer zugleich noch Harnoncourts jüngere Veröffentlichungen – etwa von Händels Messias und Mozarts Requiem – mit seinen als Referenz-Aufnahmen gehandelten, älteren Einspielungen vergleicht, kann Alice Harnoncourt nur recht geben: »Er ist zum Teil viel radikaler geworden im Ausdruck«.
Die Violinistin Alice Harnoncourt, seit 1953 mit dem gebürtigen Berliner Nikolaus Harnoncourt verheiratet, war von Beginn an beteiligt an Harnoncourts Pionierleistungen auf dem Gebiet der gut informierten, historischen Musizierpraxis. Zusammen gründete das Paar im Jahr der Eheschließung in Wien das Spezialistenensemble Concentus Musicus.
Wie Harnoncourt damals in seinem nahezu als Concentus-Manifest zu verstehenden Aufsatz »Zur Interpretation historischer Musik« schrieb, wollte man die Werke der Renaissance und des Barock schlicht von ihrer neuen alten Seite erklingen lassen: so werkgetreu wie möglich und nach bestem musikwissenschaftlichen Wissen. Aber schon in den Anfängen wusste der Maestro, dass Partituren und Jahrhunderte alte Instrumente nichts zu erzählen vermögen ohne tiefes musikalisches Empfinden.
Wie man Alte Musik durchlüften kann, um atmende Gegenwartsmusik erklingen zu lassen, hat Harnoncourt mit dem Concentus Musicus auf mehr als 400 Einspielungen dokumentiert. Darunter finden sich enorme Projekte wie die Gesamtaufnahme aller Bach-Kantaten. Mit dem Monteverdi-Zyklus, Mitte der 1970er Jahre in Zusammenarbeit mit dem Regisseur Jean-Pierre Ponnelle am Opernhaus Zürich realisiert, wurde auch auf der Schallplatte die überfällige Renaissance dieses Komponisten durchgesetzt.
Die Erschütterungen, die Harnoncourt in der Musikszene mit seinen Recherchen und Entdeckungen provozierte und für die er etliche Preise erhielt, lösten Wellenbewegungen aus. Harnoncourt fand Jünger. Trotz gleich gesinnter und gleichaltriger Kollegen wie Gustav Leonhardt ist dennoch Harnoncourt zur Identifikationsfigur für viele Ensembles geworden, die sich mit Darmsaiten, Naturtrompeten und mannshohen Lauten ans Barock-Repertoire begeben, wie es auch der auf den Namen Johannes Nicolaus Graf de la Fontaine und d’Harnoncourt-Unverzagt getaufte Dirigent bisweilen noch tut, wenn er zum geliebten J.S. Bach zurückkehrt.
Doch grundsätzlich muss es für ihn nicht mehr nur der Concentus Musicus sein, um Klangklischees zu revidieren. Harnoncourt, der von 1952 bis 1969 noch Cellist bei den Wiener Symphonikern war, hat auch moderne Top-Orchester mit seinen aufführungspraktischen Vorstellungen infiziert. Mit den Wiener und den Berliner Philharmonikern, dem Royal Concertgebouw Orchestra und dem Chamber Orchestra of Europe hat er Werke aus Klassik und Romantik vorbildhaft einstudiert, auf dass sich landauf, landab Mittelklasse-Orchester an seiner rhetorischen Prägnanz und vertieften Sinnlichkeit orientieren. Vorlagen wurden von ihm hinreichend geliefert. Impulsive Sprungkraft mit überscharfen Ecken und Kanten bieten seine Beethoven-Symphonien. Bei Schumann sorgt er für prismatisch spannungsvolles Kolorit, während er bei Brahms das Melos aufraut. Für Verdis Requiem wählt er eine kammermusikalische Brennweite, um auch das opernhafte Überwältigungs-Panorama auszublenden.
Sporadisch zieht es Harnoncourt ins 20. Jahrhundert – zu Bela Bartók, Alban Berg und George Gershwin, dessen Originalversion von »Porgy and Bess« er erstmals überhaupt (und leicht hüftsteif) einspielte.
So vielseitig interessiert Harnoncourt sich beweist, gibt es doch mehrere Komponisten, mit denen er überkreuz liegt. Mit Gluck und Rossini, mit Berlioz, Strauss und Schönberg will er seine Zeit nicht vergeuden. Weit oben auf seiner Schwarzen Liste rangiert Gustav Mahler, dessen Musik er als egozentrischen Seelenspiegel abtut. Dieses »immer nur ich – ich – ich« lehnt er ab. Das Werk eines weiteren Österreichers ist zwar auch Nabelschau. Doch Franz Schubert habe, so Harnoncourt, seinen Gefühlshaushalt in eine Klangsprache übersetzt, die wirklich jeden anspreche und anrühre.
Überhaupt nicht gedankenschwer aufgestellt ist indes die Österreich-Connection, mit der Harnoncourt und der Concentus Musicus in den Konzerthäusern Dortmund und Köln Station machen. Vielmehr fühlt man sich in den Goldenen Saal des Wiener Musikvereins versetzt, wenn dort am Neujahrs-Mittag süffig und schmissig Walzer und Polka er-klingen. Ausgewählt hat Harnoncourt Polkas, Quadrillen und Märsche – auch von Johann Strauß und Joseph Lanner, mit denen er selbst 2001 seinen Einstand zum Ersten Jänner bei den Wiener Philharmonikern gegeben hatte. Wie Harnoncourt freimütig gesteht, wisse er »heute mehr und fühle mehr bei dieser Musik«. Man muss nicht gleich in Deckung gehen bei den in Noten abgefeuerten Stimmungskanonen der k.u.k.-Monarchie.
8. Juni 2011, Konzerthaus Dortmund und 9. Juni, Kölner Philharmonie.