// Die Zeit für Rückblicke ist eigentlich vorüber. Dennoch, 2007 war ihr Jahr: Auftritt – Salzburger Festspiele; Eröffnungspremiere am Schauspiel Köln mit einer fulminanten Kriemhild-Kür; roter Teppich auf dem Festival von Cannes und ein halbes Jahr darauf die Gala des Europäischen Filmpreises in Berlin, woran sich im Dezember noch das vermutlich luxuriöseste all dieser Stelldicheine anschloss. Ein paar Tage Dubai, in dem wie von Aladins Wunderlampe, nur um etliche Volt mehr erhellten arabischen Gotham City. Auch das Emirat am Golf leistet sich ein Filmfestival und lud Fatih Akins deutsch-türkische Identitätssuche »Auf der anderen Seite« ein. Wobei man gespannt die Reaktion einer islamischen Gesellschaft auf das lesbische Paar Lotte-Ayten abwarten darf.
Patrycia Zielkowska spielt Lotte. Die Figur, für die der Begriff Heimat mehrdeutig bleibt und die ohne Vater unter Mutterschutz aufwuchs, legt durchaus Spuren zur Biografie ihrer Darstellerin, einer gebürtigen Polin. Lotte stirbt zu früh in dem europaweit prämierten Film von Fatih Akin, der Ziolkowska bereits vor sechs Jahren mit der Hauptrolle in der Ruhrgebiets-Zeitreise »Solino« betraut hatte. Lotte stirbt in Istanbul, auf der Straße, einen sinnlosen Tod, nachdem die Studentin aus Bremen alles hat stehen und liegen lassen, um ihrer Freundin und Geliebten Ayten, die aus Deutschland abgeschoben und als Extremistin in der Türkei inhaftiert wurde, zu helfen.
Resolut und absolut ist diese Lotte. Nicht anders als Ziolkowskas unerbittliche Kriemhild in Karin Beiers Kölner Einstand mit Hebbels »Nibelungen«: eine junge Naive, die »True Love« haucht, und übermütige Windsbraut, die zur düsteren Rachegöttin an den Mördern des Gatten Siegfried wird; zunächst eine Lara Croft der nordischen Sagenwelt, dann Schwarze Witwe und Heroine, die in Wagners Walhall einen Platz behaupten könnte.
»Drama, Tragik«, sagt Ziolkowska mit überbetont slawisch rollendem R bei unserer Begegnung in Köln und meint das Rollenfach. Obwohl, nicht nur beim Foto-Shooting, wenn sie sich dribbelnd und federnd in Form bringt und kobolzend an der Selbstpräsentation mitwirkt (nicht ohne Sorge um das Ergebnis), scheint ihre Strahlkraft auch fürs Komische geeignet und für allerlei mehr: burschikos und lasziv, Kumpel, Luder und Lolita.
»Ausbüchsen« ins andere Fach, Versuche, das Kindliche und Unschuldige zu bewahren, daran liegt Patrycia Ziolkowska. »Manchmal entstehen Dinge beim Theater auch aus Faxen-Machen, um dann aber geformt zu werden.« Sie kennt das aus Arbeiten mit Regisseuren wie Leander Haußmann, Thirza Bruncken und Karin Beier, die, je auf ihre Weise, über enormen Phantasiehaushalt verfügen (obgleich nicht immer gut damit wirtschaften).
Sie hat Glück gehabt mir ihren Rollen, die sie »aus dem Bauch« heraus und mit heißem Herzen entwickelt, zumeist auch mit ihren Regisseuren. Es seien »Glücksmomente, wenn jemand einem etwas entlockt jenseits dessen, was man als Grundausstattung sowieso hat. Aber um die Ventile zu öffnen, um sich hinzugeben, braucht es Vertrauen.« Wie in einer Liebesbeziehung.
Die Ergebnisse waren und sind meistens extrem, im mindesten bei einer, bei ihrer Figur. Ein Hingucker. Zu Anfang bei Leander Haußmann, der Spürsinn hat für das Schöne, Wilde, Ungestüme bei jungen Männern und jungen Frauen, war sie 1999 in Shakespeares »Maß für Maß« da-bei: noch während ihrer Ausbildung an der Westfälischen Schauspielschule. Der Intendant war sich nicht zu fein, die Eleven selbst zu inszenieren.
Zuletzt bei Luk Perceval in Salzburg. Da ist sie in »Molière« ein weißer Traum, klassische Ballerina der Lust, Subjekt und Objekt: »sonnig, destruktiv und in sich den totalen Abgrund«. Das große Liebes-Papperlapapp von Perceval / Ferdinand Zaimoglu / Thomas Thieme überwintert als szenische Klimakatastrophe dauernden künstlichen Schneefalls nach der Festspiel-Premiere nun an der Berliner Schaubühne. Wenn die erotische Sehnsucht des rabiaten Molière-Maniacs in Dir-ty-Sex-Rangeleien ausläuft, turnt sie dem Lüstling intensiv auf einer Lautsprecher-Box Orgasmus-Akrobatik vor. Und mehr als das. Während er den obsessiven Kampf irgendwann aufgibt, hat sie »noch den Willen zum Nein und die Kurve zu kratzen. Die Zwei sind nicht gut für einander, aber gegen die Anziehung und Abstoßung machtlos. Das Ergebnis lautet: verkümmern oder sich veräußern.« Wovon sprechen wir? Noch vom Theater, von Molière und seiner Belle Dame, vielleicht auch vom Paar Kriemhild und Siegfried, wenn ihn nicht Hagens Speer getroffen hätte? Oder von privaten Dingen außerhalb der Bühne?
Über ein Intermezzo in Oberhausen und eine Unterbrechung, um »sich auszutoben«, ging Ziolkowska 2003 fest zu Klaus Weise nach Bonn. Manchmal nützt es, nachzulesen, was dem Kritiker durch den Kopf ging. In einer mittelmäßigen Inszenierung war Ziolkowska eine erstaunliche Titelheldin: Schillers Jungfrau. Nach ihrer Erweckung legte sie die schlabbrige Sportswear ab und stieg in den Lederanzug einer Amazone, wodurch das Hirtenmädchen aus Domrémy zur Grenzgängerin aus anderen Zeiten wird. Für einen ihrer Monologe stand sie vor dem geschlossenen roten Vorhang: ganz staunendes Auge und träumender Mund, eigensinnig und anmutig. Kein sentimentales Seelchen, keine Emanze. Am nächsten kam Ziolkowskas Jeanne noch der prophetischen Direktheit des »Jesus Christ Supergirl« in Luc Bessons ekstatischer Film-Fantasy über die Heilige Johanna der Schlachtfelder. Wer fragt da nach Geist oder Tat, Vernunft oder Glaube? Wo es auf der Bühne mehr braucht als die Botschaft der Legende, hat es das Kino leichter; es darf die Idee zugunsten des Idols vernachlässigen, darf melodramatisieren, romantisieren, spekulieren.
Beim Europäischen Filmpreis-Fest habe sie sich so auf Godard gefreut, den sie wie die Nouvelle Vague überhaupt bewundere. Der aber ließ den Preis fürs Lebenswerk von Wim Wenders in Empfang nehmen. Ja, natürlich! Die blonden Haare, kurz geschnitten und eng am Kopf liegend, die großen Augen, ebenso der kindlich weiche Mund: Man denkt, wenn man Patrycia Ziolkowska sieht, an Jean Seberg, das Mädchen, das Jean-Paul Belmondo verriet in Godards »Außer Atem«, das Mädchen, das Françoise Sagans »Bonjour, Tristesse« das Gesicht jugendlicher Erschöpfung gab. »Ich hab mich müde getanzt«, sagt Hedda Gabler einmal. »Erschö-pfungszustände«, sagt Ziolkowska, »können auch Klarheit schaffen. Weil man bei sich bleibt oder bei sich ankommt.«
Ibsens im ehelichen Professorenhaushalt unbefriedigte, stolze Generalstochter wäre eine Rolle für sie. Stattdessen hat sie Ibsens Ellida Wangel gespielt. In Bonn, an Klaus Weises Theater, von dessen Neustart sie sich mehr versprochen hatte: »Begegnungen, auch um sich aneinander zu reiben, die Vitalität eines Beginns«. Das trägt sie nun in Köln, in einem explosiven Energieschub mit ihrem Siegfried-Partner Carlo Ljubek und dem Kontrahenten Hagen (Michael Wittenborn) aus. Ihr »Motor lief sofort heiß«, als sie etwas verspätet zu den Proben eintraf. Beiers Modellversuch in Köln erinnert ein bisschen an die unmögliche, chaotisch-kreative Ära Haußmann in Bochum. Da verlief nichts nach Schema F.
Immerhin, in Bonn gab es Thirza Bruncken. Ziolkowska war die Ibsen-»Frau vom Meer« der inszenierenden Fundamental-Oppositionellen. Man sah ein Vampirdrama, mit Ellida als Loreley und Undine der Fjorde, mal Dark Lady, mal blonde Fee, schließlich goldglänzende Diva. Wie die »Schwankende Frau« auf dem Gemälde des Surrealisten Max Ernst, aus dem Gleichgewicht gekippt, aus der Horizontalen gestürzt, turnte Ziolkowska durch die Dekoration.
Bruncken hält sie die Treue, schwärmt von deren Begabung, »auf zwei Parallelgleisen zu fahren mit Bildsprache und Textebene«, losgelöst vom strengen Geist des Buchstabens. Mit ihr finde man »absurde, surreale Situationen«. Sagt es auch mit Blick auf Brunckens im Bonner Theater-Haus selbst verfemte, seltsam lunaeske, wie stoned wirkende »Dreigroschenoper«, bei der die Beggar’s Bagage schlaff unter Afrolook-Perücken durchhing, mampfte, rammelte und zugedröhnt in miesen Schlafwaben hauste.
Ziolkowska: Im Deutschen tut man sich schwer mit der Buchstabenfolge ihres Namens. Mit den Eltern verließ sie in den frühen Achtzigern die nahe Weißrussland gelegene, noch dem Ostblock verhaftete Heimat Sokolow Podlaski und kam über Belgien und das Euregio-Dreieck im Rheinland an. Eine Freundin und Kollegin nennt sie einfach »Smith«. Wie Patti Smith – es muss etwas mit New Yorks Velvet Underground zu tun haben, aus dem heraus unter anderem auch die »Sex Pistols« ihre Munition verschossen.
Die 1979 geborene Zielkowska ist eine schöne Alternative zu den mehr oder weniger gleichaltrigen deutschen Vorzeige-Stars Julia Jentsch, Sandra Hüller, Nina Hoss, Hannah Herzsprung und Jessica Schwarz. Oder könnte es werden, wenn der Mut der Produzenten sich nicht selbst blockierte, die gern immer dieselben Figuren auf dem Besetzungs-Schachbrett hin und her verschieben.
Im Mai in Cannes – 24 Stunden Croisette inklusive Sonnenbrand, mehr war nicht drin, sie musste nach Berlin für die »Molière«-Proben – stand sie »unter Adrenalinschock«. »Diese seltsame Zwischenwelt – der wehende Duft der Film-Frauen, Charme und Fähigkeit der Franzosen, mit Glamour umzugehen, zu feiern, auch sich zu feiern, und das mit Humor« – habe sie sehr genossen und zugleich »als Spiel gesehen und begriffen«. Auf dem Rückflug, sagt sie, »ging es mir gar nicht gut. Die Euphorie war abgeebbt. Ich fühlte mich allein. Spürte eine große Überforderung.« Dass sie wenige Stunden später erneut »auf der verkackten Probebühne in Reineckendorf, gelegen neben einer Nervenklinik« stand, habe ihr sehr wohl getan. »Das Erlebte, der Wahnsinn der Côte d’Azur, war trotzdem noch da.« Aber anders geerdet. War nun »unantastbarer Eigenbesitz«.
Den benötigt sie, mental wie praktisch. Als sie in Bonn lebte, behielt sie ihre Berliner Wohnung. Neben der alten Hauptstadt bot die neue Hauptstadt eine Art Fluchtpunkt zu sich selbst.
Sie braucht eine Basis, soliden »Boden unter den Füßen«. Beim Europäischen Filmpreis-Abend mochte sie mit dem Sieger, dem Rumänen Cris-tian Mungiu, nur deshalb reden, weil sie dessen Abtreibungsdrama »4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage« auch gesehen hatte: »Small Talk liegt mir nicht.« Obwohl sie weiß, dass solch ein Show-Parcours »offizieller Termin und Podium« ist. Ein Blind Date für die Zukunft.
Nach der rasant durchgestarteten Karriere ist jetzt der Moment kurzen Innehaltens da: die »Stimmung des Aufbruchs«, der diversen Richtungen zustreben kann. Als habe jemand zum Sprung angesetzt und die in allen Fasern gespannte Bewegung wird in der Luft angehalten. Gebremste Emphase. Bereit zum Aufsetzen an der Zielmarke. Rekordverdächtig.