TEXT: INGO JUKNAT
Auf den Worringer Platz lässt Nurkan Erpulat nichts kommen. »Dass das hier ein Schandfleck sein soll, finde ich lustig.« Erpulat hat lange in Berlin gelebt, da hat er schon Härteres gesehen. »Diese Gegend wird von vielen als negativ empfunden, obwohl sie gar keine Berührung mit ihr haben«, sagt der Regisseur und stapft durch den Schnee wie ein Stadtführer für Special-Interest-Touristen, die keine Lust auf die bekannten Sehenswürdigkeiten haben. Wenn es nach Erpulat geht, dann ist das hier das echte Düsseldorf, nicht der Glitzerkitsch der Kö und/oder die millionenteuren Libeskind-Bauten am Hofgarten. »Vor dem Krieg war das einer der Mittelpunkte der Stadt – mit Cafés, feinen Damen und allem«, erzählt Erpulat.
Optisch ist davon nur eine Straßenbahnkreuzung in 70er-Jahre-Kulisse geblieben. Vor einer Weile hat die Stadt versucht, das Ganze aufzuhübschen. Nun säumen lange Bänke aus grünen Glasbausteinen die Schienen, von Junkies intern als »Landebahn« bezeichnet. »Nicht, dass ich diesen Platz wirklich schön finde«, gibt Erpulat zu und bleibt vor einer Glasvitrine stehen, die mal für Kunst gedacht war und nun als Pizzabude fungiert. Während er die Umgebung erklärt, tippen zwei Polizisten einen Mann an, der an der Straßenbahnhaltestelle neben zwei Bierflaschen eingeschlafen ist. Die Alkoholiker am Platz kenne er inzwischen fast alle, sagt Erpulat. »Die sind total in Ordnung und räumen sogar ihre Flaschen weg aus Angst, dass man sie vertreibt.« Der Mann an der Haltestelle ist inzwischen aufgewacht. »Nein, alles ok, echt!« Nur ein kleines Nickerchen.
DAS STÜCK ZUM PLATZ
Erpulat hat aus dem Worringer Platz ein Stück gemacht. Oder vielleicht sollte man sagen: Er hat ein Düsseldorf-Stück inszeniert, das um diesen Platz kreist. »Worringer Schlachten« heißt es. Der Titel spielt auf den Gründungsmythos der Stadt an – jenen Kampf gegen den Erzbischof von Köln, in dessen Folge Düsseldorf die Stadtrechte erhielt. Er meint aber auch das moderne Ringen um öffentliche Räume und die Frage, wie sich weniger vorzeigbare Ecken in das Selbstverständnis einer Stadt einfügen.
»Worringer Schlachten« ist Erpulats zweite Inszenierung als Regisseur am Schauspielhaus, die erste war »Herr Kolpert« von David Gieselmann. Für das neue Stück haben der Regisseur und seine Drehbuchautorin Anne Jelene Schulte am Worringer Platz Stimmen und Stimmungen eingefangen. Aus der Recherche entstand Ende letzten Jahres der erste Teil von »Worringer Schlachten«. Das Stück fand nicht auf einer klassischen Bühne statt, sondern als Parcours rund um den Worringer Platz. Erpulat und Schulte luden das Publikum in Bars und verlassene Junkie-Wohnungen ein. Realität und Kunst verschwammen auch bei den Figuren. Mal erzählte eine Schauspielerin in der Rolle als Barkeeperin fiktive Anekdoten, in einem anderen Fall präsentierte ein realer Anwohner Teile seiner Lebensgeschichte.
Die Publikumsresonanz hielt sich in Grenzen. »Diese Art von Theater scheint in Düsseldorf nicht sehr bekannt zu sein«, stellt Erpulat ohne Groll fest. Wie seine neue Heimat tickt, das muss er selbst noch herausfinden. Auch deshalb inszeniert er jetzt ein Düsseldorf-Stück. Dass es um den Worringer Platz kreist, hat auch prosaische Gründe. »Anne Schulte und ich haben uns überlegt: Wenn wir Düsseldorf lieben wollen, dann müssen wir da anfangen, wo wir sind – bei unseren Nachbarn.« Er meint die Nachbarn des »Central« in der alten Paketpost. Hier unterhält das Schauspielhaus Werkstätten und Proberäume – sowie eine kleine Studiobühne. Wäre das Theater ein Club mit mehreren Tanzflächen, dann wäre das Central der Raum, in dem die experimentelleren DJs auflegen.
KEIN GHETTO-BERICHT
Der nächste Teil der »Worringer Schlachten« wird im Februar gezeigt, diesmal auf einer traditionellen Bühne. Wie die Aufführung genau aussehen wird, weiß Erpulat auch noch nicht. »Wir suchen noch nach der endgültigen Form.« Fest steht, dass sich aus dem Recherchematerial des letzten Jahres mehrere fiktive Geschichten ergeben sollen, von unterschiedlichen Bewohnern des Worringer Platzes erzählt. Drei Kapitel mit den Überschriften »Ordnung«, »Verletzung« und »Schönheit« sind geplant – zu Wort kommen ein griechischer Einwanderer, ein Junkie sowie ein vermögender Architekt.
Will er mit dem Stück eigentlich Düsseldorf-Klischees widerlegen? »Nein«, sagt Erpulat. Inzwischen sitzt er im Warmen, am Fenster eines großen Billardcafés, das er auch privat oft besucht. Der Blick geht hinunter auf den verschneiten Platz. »Im Theater arbeiten wir immer mit Klischees. Das fängt schon an, wenn sich zwei Charaktere verliebt in die Augen sehen. Auf Klischees kann man nicht verzichten. Aber man kann sie so benutzen, dass etwas anderes daraus wird.«
»Worringer Schlachten« soll weder romantisierende Homestory noch Ghetto-Bericht werden. »Ich bin nicht der Meinung, dass die Realität an diesem Platz aus tragischen Junkie-Geschichten und Kriminalität besteht. Ich sehe hier starke Menschen, die kämpfen – mehr als anderswo in Düsseldorf vielleicht. Und ich mag den Dreck an diesem Platz. Das ist es, was im Rest der Stadt ein bisschen fehlt.«
Vor seiner Anstellung am Schauspielhaus hat Erpulat unter anderem in Berlin gearbeitet. War der Wechsel an den Rhein ein Kulturschock? »Nein, überhaupt nicht. Das hier ist auch eine wichtige Kulturstadt mit Opern, großen Museen und einer langen Kunsttradition. Aber es gibt natürlich Unterschiede.« Düsseldorf komme ihm manchmal seltsam aggressiv vor. »Nehmen Sie die Fußgänger. In Berlin stört sich niemand daran, wenn ein Auto bei roter Ampel noch schnell um die Ecke biegt. Hier habe ich schon mehrmals beobachtet, wie Leute an die Scheibe schlagen.« Erpulat ahmt den empörten Ton nach: »Rot!«
Mit Umzügen hat er Erfahrung. Sein Vater war Beamter in der Türkei, alle zwei, drei Jahre ging es in eine neue Umgebung. Vielleicht hat ihn das zu einem guten Beobachter gemacht, empfänglich für die großen und kleinen Schrulligkeiten einer Stadt. Es sei ihm wichtig, sich an der neuen Umgebung zu reiben, sagt der Regisseur. »Ohne Reibung keine Wärme.« Woran reibt er sich im Falle von Düsseldorf? »Da gibt es eine bestimmte Haltung. Düsseldorf definiert sich gerne über Superlative: schönste Stadt am Rhein, größte Kirmes, größte Dezimaluhr, schuldenfreieste Stadt – wenn man ›schuldenfrei‹ steigern könnte.« Nicht jeder Superlativ sei eine Aufwertung.
»Wenn der Oberbürgermeister sagt, die Mieten im Innenstadtbereich seien in den letzten Jahren um 50 Prozent gestiegen, dann schockiert mich das. Wie kann man darauf stolz sein? Eine Stadt sollte allen einen Lebensraum bieten – nicht nur denen, die viel verdienen. Wir möchten solche Themen im Kunstzusammenhang diskutieren. »Worringer Schlachten« ist da nur der Anfang – ein kleines Projekt.« Im Mai soll es weitergehen mit der Düsseldorf-Analyse. Dann inszeniert Erpulat am Großen Haus Ödön von Horváths »Kasimir und Karoline«. Die Handlung verlegt er vom Münchner Oktoberfest auf die Rheinkirmes.
»Worringer Schlachten«: Premiere 16. Februar 2013, Central am Hauptbahnhof; weitere Aufführungen: 20. und 28. Februar. www.duesseldorfer-schauspielhaus.de