Als erstes schaut sie auf die Uhr. Es war kurz vor dem selbstbestimmten Ende ihrer Kanzlerschaft, als Filmemacher Torsten Körner sie befragt. Nun hat sie Zeit. Eine Epoche lang, 16 Jahre, war Zeit für sie knapp, ein kostbares Gut, ein flüchtiges Element. Was sie vermisse an dem anderen Deutschland, 13 Jahre nach dem Mauerfall der DDR, fragt sie jemand, und sie antwortet: »Zeit«, die sie in diesem ersten Leben mehr, vielleicht mehr als genug, gehabt habe.
»Freiheit« ist ein zentraler Begriff in ihrem Leben und durch ihre Prägungen – als Parole in der sozialistischen Welt missbraucht und missverstanden als Konsum-Freiheit in der westlichen Welt. Wohl möglich, dass sie deshalb zu Parteien, auch zu der, der sie »nahe steht«, immer Abstand hielt. Für sie ist Freiheit konkret, als Gefühl und Faktum, nicht als Parteisatzung.
»Im Lauf der Zeit« ist ein doppeldeutiger Titel für die erhellende 90-minütige Dokumentation, er enthält das Motiv des Ablaufs, der Veränderung, sogar den der Resignation und den der Bewegung in einem Zeitraum. »Die Zeit blieb nicht stehen«, sagt sie über ihre lebendigen, vielgestaltigen Erfahrungen ihrer Kindheit in Templin im evangelischen Pfarrhaus mit der Sankt-Maria-Magdalena-Kirche, dem Autorität ausstrahlenden Vater und der klug und heiter zugewandten Mutter; dann das Physikstudium in Leipzig, die Arbeit, die Wende.
Ist Merkel der Zeit hinterhergelaufen? – nein. Hat sie sie verwaltet? – auch. Hat sie sie geprägt? – ganz gewiss. Ist sie mit ihrer Zeit im Reinen? – es sieht danach aus. Einmal sagt sie, mit Blick auf die Fehler des Schengener Abkommens und der Aufgabenzuteilung an Europas Grenzen, sie würde sich wünschen, »die Zeit zurückspulen« zu können. Es mag auch gelten fürs Anpacken der klimapolitischen Herausforderung.
Montiert gegen den Uhrzeigersinn
»Im Lauf der Zeit« ist auf gute Weise sprunghaft, montiert gewissermaßen gegen den Uhrzeigersinn, vor und zurück, von damals zu heute – und gerade durch die Perspektivwechsel Bezüge und Kontinuitäten deutlich machend. Ausschnitte aus frühen Reden, Äußerungen und Interviews, darunter dem berühmten mit Günter Gaus oder mit Friedrich Küppersbusch oder Joachim Gauck, ergänzen sich zu einem ziemlich vollständigen Porträt. Sie habe gelernt, sich zu wehren, es mühevoll gelernt, erzählt ihre Mutter und berichtet eine Episode aus Angelas Schulzeit. Es gab für sie manche Lektionen in moralischem Verhalten und dass dies nicht immer im buchstabengetreuen Sinn der Bergpredigt möglich sei, in einem tieferen Sinne aber wohl christlichem Geist entsprechen könne.
Als »grau und farblos« und »Maus« wurde sie anfangs in der westdeutschen Männer- und Politikerwelt eingestuft, unterschätzt, verächtlich gemacht, doch bald hatten dieselben Männer die narzisstische Kränkung zu verarbeiten, ausgeschaltet worden zu sein. Weil sie unfähig waren, sich zu ändern, auch mit Blick auf die Rechte der Frau. Auch unfähig, in einer, in Merkels DDR-Biografie etwas anderes zu sehen als »Ballast«. Insofern ist ihre größte Rede eine innerdeutsche, als sie diesen Irrtum, diese Ignoranz und Borniertheit schlicht klarstellte am Tag der Deutschen Einheit 2021 in Halle. »Ein neuer Anfang«: So lautete der Slogan jener Bundestagswahl, nach der sie Gerhard Schröder das Machtspiel gezeigt hat.
Verbale Übergriffe und gestische Zugriffe sind nicht an ihr abgeprallt. Es muss sie getroffen haben, aber sie hat die Verletzung nicht gezeigt, hat gelernt, analysiert, vernunftgeleitet agiert und strategisch operiert. »Sie kann warten«, wie die Fotografin Herlinde Koelbl sagt: »wie ein U-Boot«, das im rechten Moment auftaucht. Sie habe »gute Ohren, um zu hören, einen guten Mund, um etwas zu sagen«, antwortet an einer Stelle Merkel, die »Late Night Lady« in Berlin, Brüssel und weltweit.
Kompromissfähig, aber mit Prinzipien
Krisen hat sie gemanagt, pragmatisch lösungsorientiert, nicht visionär: Finanz-, Euro-, Klima-, Flüchtlings-, Corona-Krise und die des deutschen Parteiensystems. Integer, standhaft und beharrlich in ihrem ethischen Selbstverständnis (unvergessen: dass dies nicht mehr ihr Land sei, wenn »ein freundliches Gesicht« als nationale Zumutung empfunden würde) und offensiv in ihren Positionen, mit denen sie hier dem unsichtbar bleibenden Filmemacher Körner antwortet. Ihre legendäre Kompromissfähigkeit meint nicht, dass sie keine Prinzipien habe. Die bemerkenswerten Worte von Barack Obama drücken seine hohe Wertschätzung, allerhöchsten Respekt und – bei all ihrer Verschiedenheit in Temperament und Auftreten – auch das Gemeinsame aus, je auf ihre Weise Außenseiter in ihren Ämtern gewesen zu sein.
Wer Merkel gesehen hat, als zum Abschied beim Großen Zapfenstreich Hilde Knefs »Rote Rosen« für sie gespielt wurde, konnte in ihrer gefassten, manchmal sehr um Fassung ringenden Miene in ihr Wesen blicken. Auch wenn es für ein demokratisch verfasstes Land nicht der angemessene Begriff ist, Angela Merkel ist ein Souverän geworden und gewesen. Auch dafür gab es eine stehende Ovation für Dr. Angela Merkel in der Universität von Harvard.
22. Februar auf Arte, 27. Februar in der ARD sowie in den Mediatheken