Dass die Romantik auch »eine Fälschung« gewesen sei, wie Sven-Eric Bechtolf sagt und dabei etwa Mittelalter-Euphorie und Sehnsucht nach heilsamer Reichseinheit meint, lässt sich nicht bezweifeln. Zumal, wenn man sich den Kulissen, die aus dem Dunkel der Duisburger Kraftzentrale ragen, von der Hinterbühne aus nähert. Das Felsmassiv der Alpen scheint da wie eine monumentale Pappmaché-Krippenlandschaft oder ein altes aufklappbares Bilderbuch. Auch von vorn betrachtet nehmen sich die drei Bergzacken mit Gamsbock auf der Höh’ und Holzhütte im Tal derart pittoresk aus, dass sich in dem Bühnenbild getrost Karl Mays deutsche »Weihnacht« feiern ließe. Das »gewisse selige Lächeln« des Autors und Regisseurs Bechtolf für sein Genussmittel-Märchen ist – wäre dies kein Widerspruch – gemütvoll-ironisch. In dem zentralen RuhrTriennale-Projekt »Steine und Herzen« irrlichtert es Chamisso-haft, allerlei Ziatatspuk, Teufelsbrut und Hühnerblut west durch die phantastisch-dramatische Novelle, deren Handlungs-Datum 1789 in eine revolutionäre Geburtsstunde fällt. Man muss aber nicht nach Paris schauen, Genf tut es auch, wo im Salon des Bankiers Jules Paccard ein Wissenschaftszirkel disputiert und die Sache der Aufklärung betreibt. Paccards Wette (auch dies ja ur-romantisches Motiv) mit dem Naturforscher Nektarine sorgt für eine Alpenexpedition zum Erbringen eines Beweises über die Entstehung der Welt, jenseits biblischer Auslegung, in deren Verlauf es auf Leben und Tod geht. »Der Beitrag der Schweiz zur Aufklärung war die Geologie«, merkt Bechtolf dezent sarkastisch an. Wenn man so will, kommt auch die Frage von »intelligentem Design« auf, wie es neu-römisch-katholisch heißt.
Das Singspiel, in dem neben anderem der Tieck-Schlegel’sche Shakespeare, Heines »Eiapopeia«, der Österreicher Nestroy, der burleske Librettist Schikaneder und Goyas ungeheuerliche Traumbilder Spuren hinterließen, entstammt vor allem dem Spieltrieb Bechtolfs. Zugleich ernst gemeint und – von ihm selbst – nicht ganz für voll zu nehmen, habe es mit einer Kindervorstellung von ihm zu tun. Denn »der Zauber, den Theater auslöst«, interessiere ihn sehr: »Ich habe schon geraucht, als ich noch gespielt habe«. Deshalb kommt er en passant auf Max Reinhardt zu sprechen, den Zauberkönig von Berlin und Salzburg.
Bechtolf folgt dem Leitgedanken der Flimm-Triennale, dass Romantik und Rationalität einer Wurzel entwachsen, dass »diese Epoche die Entzauberung der Welt nicht ausgehalten habe« und die Aufklärung sich »geraden Fußes in die Industriehallen und damit von der Knechtung durch das Ancien Régime strikt in eine neue, die der Arbeitswelt begeben« habe. In dieser Ambivalenz bewegt sich das Stück: zwischen dem Drang zur Freiheit der Forschung, Wissenschaftskritik, heiliger Einfalt, Aberglauben und dem Wunderbaren. Gewissermaßen zwischen Settembrinis Humanitätspathos und dem Naphta-Obskurantismus. Klingt nicht sogar eine wie von Beethoven instrumentierte Menschheitsklage durch die vier Bilder von »Steine und Herzen«, darin es heißt, »dass der Mensch, der denkt, ein entartetets Tier ist«? Bechtolf stimmt zu: »Im historischen Gewand lässt es sich leichter über diese Dinge reden, über das Bestalische und Affektgeladene in uns, das als wahrer Hexensabbat seinen Lauf nimmt. Nicht von ungefähr stellt er dem Ganzen einen Satz Pascals voran: »Der Mensch ist also nichts als ein Haufen von Irrtümern, ohnmächtig ohne die Gnade. Nichts zeigt ihm die Wahrheit, alles betrügt ihn. Die beiden Hauptstützen der Wahrheit, der Verstand und die Sinne, betrügen sich gegenseitig.« Voilà.
Auch die Form von »Steine und Herzen« changiert ins Zwielichtige. »Volkslieder« durchbrechen das Libretto; die musikalische Seite stammt von dem Innsbrucker Andreas Schett, von Markus Kraler und der Musicbanda Franui, die soeben für ihre CD »Ende vom Lied« den Preis der Deutschen Schallplattenkritik erhielten. Die Gattung Oper erweitert dieser 1993 gegründete intellektuelle Musikantenstadl in verwegener Technik zur klassisch-folkloristischen Spät- und Sonderform, einem Organismus aus vertrackt disparaten Teilen.
Ein Fremdkörper. So sieht sich auch Bechtolf als Theatermensch: »beruflich in keinem Lager« und schon gar nicht im zeitgeistig verheerten »des Mainstream mit der Bühne als Schlachtplatte«. »Ich bin ein richtiger Mime – das macht sonst kein Schwein mehr«, witzelt er, erhebt die Stimme, rollt das R wie Oskar Werner, trompetet ein gewaltig metallisches Kortner-Diktum in den Raum und votiert für »Exzentriker auf der Bühne«. Man kennt Bechtolf – Jahrgang 1957 – als Schauspieler, mehr noch: als Burg-Schauspieler, was ja eine Wiener Steigerung ins Olympische bedeutet, und als Regisseur – nach frühen Jahren an Flimms Thalia Theater und etlichen Stationen inszeniert er seit längerem bevorzugt an der Oper. Aber als Dramatiker? »Steine und Herzen« ist sein Debüt. Und wenn’s nach ihm geht, bleibt es beim Einzelkind, obgleich ihm Begabung zum sprachlich fein Ziselierten und kaustischer Humor zu attestieren sind.
Bachs »Ermuntre dich, du schwacher Geist!« wird man ihm wohl niemals zurufen müssen. Wie Bechtolf Motive anschlägt, Themen setzt, Funken sprüht, ist schlicht ingeniös. Ein extrem heller Kopf, blank geputzt, von einnehmendem Eigensinn. Wenn er sagt, »wir sind doch alle nicht so schlau, wie wir tun, und sollten verwalten, was wir wirklich wissen«, hat das zwar immer noch mit »Steine und Herzen« zu tun und dem Projekt Aufklärung, aber zieht weitere Kreise. Bechtolf spricht von seinem Metier und läuft dabei zu Thomas-Bernhard-Hochform auf, so wie sich alles bei ihm ins Lustvolle und Lebhafte, Anregende und Angeregte steigert: »Das Beantwortungstheater ist ein geradezu fürchterliches«, so der in Wien lebende gebürtige Darmstädter, der gleichwohl hanseatisches Aristokratentum hinter seiner legeren Art nicht verleugnen kann, dem ästhetische Sinnlichkeit und Gespür für Qualität eignen und ein Sensorium für den allgegenwärtigen Mangel an Seele, Haltung, Esprit. Die Marschallin im »Rosenkavalier«, den er vor einem Jahr in Zürich inszenierte, hat er verstanden. Einige ihrer Sätze, besonders die feinen einfachen, trieben ihm Tränen in die Augen.
Bechtolfs Impuls ist ein radikal anderer als protestantisches Arbeitsethos, darin sei er ganz und gar unbürgerlich und nicht »so sehr sinnstiftend unterwegs«: »Ich möchte überall anfassen«, sagt dieser homo ludens. Man beobachtet es bei den Proben in Duisburg, wo es ihn nicht auf dem Stuhl hält und er sich, das Haar zerwühlend, unter die Schauspieler – darunter der von ihm als »Geschenk« bezeichnete Hans-Michael Rehberg – mischt. »Ich möchte meine Zeit berserkerhaft nutzen«, legt er nach und prognostiziert für sich à la longue mindestens »eine CD, zeichnerische Ergebnisse und die Gründung eines Kasperlevereins«.
Weil ein (Wahl-)Hamburger immer schon halber Engländer ist – nicht nur Fontane wusste das –, heißt seine Maxime: common sense. Darin steckt bereits das Beste bürgerlicher Tugend, ein Sinn fürs Sich-Bescheiden. »Wie merkwürdig, dass mir dies alles geschieht«, fasst der Bankierssohn dann auch sein Grundgefühl zusammen, staucht das Mäkeln an der »bürgerlichen Kultur« zurecht, indem er sich über den »Begriff, der so tut, als gäbe es eine andere«, amüsiert und sich selbst als Kronzeugen für den »Zerfall des Großbürgerlichen« aufruft. Es lag nahe, Bechtolf mit Wagners Verfallsszenario »Ring« zu betrauen, den er 2007 an der Wiener Staatsoper herausbringen wird und den er, »da er immer groß gemacht wird, gern einmal klein sehen würde«. Man merkt deutlich im Gespräch, wie gründlich Bechtolf sich vorbereitet, ob er aus dem Briefwechsel Hofmannsthal-Strauss zitiert, aus Wagners Schriften oder Fontanes bündigen Satz, dass der »Ring« den scheiternden Versuch darstelle, Liebe und Macht zu versöhnen.
Ein Motiv, das sich auch in Bechtolfs Schauspiel-Arbeit findet, jedenfalls in den vier grandios gestalteten Rollen und Inszenierungen mit Andrea Breth in Wien. Der Prinz in »Emilia Galotti«, Philipp II. in »Don Carlos«, Schnitzlers Fabrikant Hofreiter und selbst der Lopachin im »Kirschgarten« sind jeweils auf ihre Weise Machtmechaniker, Übermenschen, Entfremdete, Raubtiere. Oger, ob der in seiner düsteren Autorität und eisigen Distanz schaudern lassende Habsburger Kaiser inmitten einer kafkaesken Behördenwelt, der liebend tötende Lessing-Prinz oder Hofreiter in seinem verächtlichem Hochmut und splitternden Ich. Wie hat man sich die Arbeit mit Breth vorzustellen? Regie definiert er als »Kraftübertragungsphänomen«. In dem »Auslieferungsberuf« Schauspieler sei er ein guter Lieferant, der viel anbiete und phantasiere, was Breth dann ab- und aufräume: »Die Wurzel unseres Arbeitens ist wenig zu reden. Ohnehin sind die Arbeiten am besten, über die man am wenigsten weiß«. Bechtolfs Lust am Naiven und sein wildes Denken passen traumhaft zusammen.
»Steine und Herzen«, Premiere 2.9.2005, Kraftzentrale, Landschaftspark Duisburg-Nord, Termine: 5. bis 17. 9.; Ticket-Hotline: 700.20 02 34 56; www.ruhrtriennale.de