Deutschland lernt gerade krisenbedingt und mühsam, dass geradlinig verlaufende Berufswege weder die Norm noch erstrebenswert sind. Aber immer noch erregt derjenige Aufsehen und Erstaunen, der vergleichsweise spät die Felder wechselt, etwas Neues beginnt – ohne Not, ohne unter Druck geraten zu sein, einfach weil die Zeit dafür gekommen ist. Er tut es gegen Widerstände, aber mit schnell einsetzendem und wachsendem Erfolg. Denn untergründig bleibt doch alles mit vielem verbunden.
Raimund Hoghe gehört zu diesen Menschen, die nichts abbrechen, aber empfänglich sind für neue Entwicklungen, andere Wege. Er sieht etwas liebevoll an, bevor es zur Ablage kommt und er sich dem nächsten zuwendet. Wissend, dass nichts verlorengeht, kann er auf ein Archiv an Beobachtungen, Begegnungen und Bewegungen zurückgreifen, das weit zurückreicht und laufend angereichert und aktualisiert wird. Seine künstlerische Welt speist sich aus einem Netzwerk an Fragen, Themen, Songs, Texten und Menschen, das sich mit jeder neuen Produktion weiter verzweigt, neue Verbindungen knüpft und die früheren in neuem Licht sehen lässt.
CHOREOGRAF, TÄNZER, JOURNALIST, DRAMATURG
Wenn Raimund Hoghe in diesem Herbst sein Zwanzigjähriges begeht, dann feiert er mindestens seine dritte und vierte Karriere – die als Choreograf und Tänzer. Vorher war er Journalist, schrieb für Die Zeit, publizierte zahlreiche Porträts von Unbekannten und Prominenten. Er war zehn Jahre lang Dramaturg von Pina Bausch beim Tanztheater Wuppertal, in seiner Heimatstadt, verfasste die Programmhefte, veröffentlichte Bücher über ihre Weise zu arbeiten und die Menschen in ihrer Kompanie. Er sah zu, hörte zu, lernte, dass alles auf der Bühne einen Grund haben müsse.
Er begann eigene Stücke zu machen: 1989 entstand »Forbidden Fruit« für Mark Sieczkarek, ein Jahr später »Vento« für Ricardo Bittencourt. 1992 begann mit dem Solo »Verdi Prati«, das Rodolpho Leoni tanzte, die Zusammenarbeit mit dem bildenden Künstler Luca Giacomo Schulte. Da begann Raimund Hoghe zu zählen. 20 Jahre sind seitdem vergangen.
Das Festival »20 Jahre – 20 Tage«, das in Essen, Münster und Düsseldorf Produktionen von ihm und ihm verbundener Mitarbeiter zeigt, würdigt einen für einen deutschen Choreografen außergewöhnlichen Werdegang. Hoghe gehört zu den wichtigsten zeitgenössischen Tanzkünstlern, ist ständiger Gast auf den großen Festivals in Frankreich, gefeiert in Belgien, in New York. 2001 erhielt er den vierten Deutschen Produzentenpreis für Choreografie, 2008 wurde er von der Fachzeitschrift ballet-tanz zum Tänzer des Jahres gekürt. Er wird in einem Atemzug genannt mit Meg Stuart, Boris Charmatz, Xavier Le Roy oder Jérôme Bel, steht in einer Reihe mit Künstlern, die kritisch und subversiv nicht nur ihr Medium hinterfragen, sondern auch die Mechanismen der Gesellschaft im Allgemeinen und der Kunst im Besonderen.
EIN ZEREMONIENMEISTER
Das klug zusammengestellte Festivalprogramm zeigt die Bandbreite seines Schaffens und bezeugt Hoghes gleichermaßen konsequente wie variantenreiche Produktivität und darüber hinaus auch den Grad der Freiheit, mit der seine Kollaborateure an den Werken beteiligt sind. Hoghe ist der Zeremonienmeister, der buchstäblich den anderen den Raum bereitet. Mit großem Respekt für die Kreativität anderer macht er ihnen auch bei »20 Jahre – 20 Tage« die Bühne frei: Luca Giacomo Schulte, in den vergangenen Jahren selbst erfolgreicher Choreograf geworden, zeigt sein Stück »Joseph«, Lorenzo De Brabandere »Jardin de Nuit«, Emmanuel Eggermont »T-Wall« und die Kanadierin Sarah Chase »Number Theory«. Wie die ehemalige Béjart-Solistin Ornella Balestra sind sie feste Größen in Hoghes Schaffen, und das, obwohl Hoghe anfangs fast ausschließlich allein auf der Bühne stand, das erste Mal 1994 in dem Solo »Meinwärts«.
Zwar sah er während seiner Zeit bei Pina Bausch, dass ein Tänzer keinen typischen, normierten Tänzerkörper haben müsse, um zu tanzen, doch war es für ihn nicht selbstverständlich, sich als Tänzer zu präsentieren. Mal legte er auf der Bühne einen Schleier über den Kopf oder hielt einen Fächer vor sein Gesicht, agierte im Halbdunkel; er verhüllte, um zu zeigen. Die Geschichte, wie er selbst zum Tänzer wurde, gehört zu den wohl anrührendsten Künstlererzählungen: Einmal habe er ein Video von Dalida gesehen, sagt er, »mit einer Szene, in der sie sich verbeugt und eine verdrehte Haltung einnimmt. Das fand ich faszinierend, ich habe versucht, diese Bewegung nachzumachen, aber es klappte nicht. Zufällig habe ich dann ein Video von mir gesehen, auf dem mein Rücken, den ich immer verborgen hatte, sehr präsent war. Als Bild fand ich das auf einmal sehr interessant, als Berg, als Landschaft, und wollte damit etwas machen. Und daraus wurde dann eine Bewegung in „Lettere amorose“, in der ich den Kopf nach unten senke und nach vorne komme, ganz gebeugt, was den Rücken wie einen Berg bildet.« Wenn er den Kopf senkt und den Oberkörper nach vorn beugt, wächst der Rücken empor. Im Profil wölbt sich sein Buckel nach außen.
FEIN GESETZTE AKTIONEN
Hoghe hat ein waches Gespür für Diskriminierungen und Ausgrenzungen, historische wie aktuelle. Seine Trilogie über Deutschland, die von der Nachkriegszeit bis in die 1960er Jahre reicht, verwebt kollektive Erinnerungen mit privaten Erlebnissen und politischen Verhältnissen der Gegenwart. Er arbeitet mit fein gesetzten Aktionen, sparsamen Gesten, die er wiederholt, mit großem Mut zu Minimalismus und Dunkelheit. Jedenfalls in den ersten Jahren. Inzwischen sind seine Stücke farbiger geworden, bunte Hemden leuchten vor der Schwärze des Hintergrunds. Jede Tänzerin, jeder Tänzer bringt eine persönliche Palette an Stimmungen und Temperament ein. Mit ihnen erzählt Hoghe Tanz-Geschichten. Er hat eigene Versionen von Klassikern geschaffen: »Sacre – The Rite of Spring«, »Swan Lake, 4 Acts«, »Boléro Variations« und seine Fassung des »L’Après-midi d’un faune«. Neben dem großen Abend kreierte er die intime Nähe des Duetts.
2011 kulminierte Hoghes Auseinandersetzung mit der europäischen Tanzgeschichte in »Pas de Deux«, in dem er mit Takashi Ueno auf der Bühne steht und sich dem Herzstück des klassischen Balletts widmet, dem Pas de deux, Signatur tänzerischer Virtuosität.
Alle Stücke verbindet die ausgesuchte Qualität der choreografischen Inszenierung, der Tänzer und der Musiken. Denn Hoghes Kunst ist auch eine große Kunst des Zuhörens. Er teilt nicht nur Raum und Zeit mit seinen Zuschauern, sondern inszeniert sich darüber hinaus nicht selten als diejenige Figur, die sich den Klängen, den Songtexten, der Emotionalität der Musik auf eine Weise zuwendet, die wir empathisch mitvollziehen, die Assoziationen und Erinnerungen aufruft und unser individuelles Gedächtnis mit dem kulturellen Archiv verbindet.
Das Festival ist so erfreulich wie überfällig. Es bietet die Chance, ein Spektrum aus Hoghes Œuvres zu erleben, ohne dass man sich dafür auf weite Reisen begeben muss (wie in den letzten Jahren). Hoghes Konsequenz und wache Kreativität zeigt sich auch mit einer Uraufführung, dem Gruppenstück »Cantatas« – es lässt, neben der strengen Form, die zarte Leichtigkeit seiner Kunst entdecken.
»20 Jahre – 20 Tage«, 23. Oktober bis 11. November 2012; Termine im Tanzhaus NRW und Düsseldorfer Schauspielhaus, PACT Zollverein, Theater im Pumpenhaus.
Dazu erscheint die Publikation »Schreiben mit Körpern. Der Choreograph Raimund Hoghe«; hg. von Katja Schneider und Thomas Betz; K. Kieser Verlag, München 2012.
Parallel ist an den Spielorten die Fotoausstellung »Körperlandschaften« von Rosa Frank zu sehen. www.raimundhoghe.com