Es ist ein Kunststück, das Warten auszuhalten – und es zu inszenieren. Ein viel größeres Kunststück noch, als die Angst zu zeigen und ihre Schattierungen. Hans-Christian Schmid gelingt beides in seinem »Kino der Beobachtung«, das er einrichtet für den Fall Reemtsma. Er wählt nicht die Perspektive des Entführten, des Bücher- und Geistesmenschen Jan Philipp Reemtsma, noch seiner Entführer und Lösegelderpresser, der ihn im Jahr 1996 für 33 Tage und Nächte lang in einem »Keller« gefangen halten, der für den Befreiten sein Leben lang ein bleibender Ort sein wird und den er in den Titel seiner Aufzeichnungen aus dem Kellerloch gestellt hat.
Der Film »Wir sind dann wohl die Angehörigen« orientiert sich mit Einverständnis der Betroffenen an dem Buch, das wiederum Sohn Johann Scheerer nicht nur aus zeitlicher Distanz zum Geschehen geschrieben hat. Und schaut mit den Augen des 13-Jährigen (Claude Heinrich), des mit seiner Mutter Ann Kathrin Scheerer (Adina Vetter) Wartenden, Angsterfüllten. Beide der Ungewissheit ausgesetzt und gezwungen, dieses »Abenteuer« zu bestehen, wie die Mutter sagt – zusammen mit ihren Helfern, der Polizei und dem Anwalt der Familie, Schwenn (Justus von Dohnányi), mit denen sie zurecht kommen müssen in der Isolation ihres Hauses, bei wachsender Skepsis und berechtigt sinkendem Vertrauen angesichts der Fehler, die beide Instanzen begehen, ihrer Nervosität und unprofessionellen Aktivität.
Zwei Häuser bewohnen die wohlhabenden Reemtsmas auf ihrem Grundstück in Hamburg-Blankenese nahe der Elbe, in dem einen findet der familiäre Alltag statt, das andere ist vorbehalten der Arbeit, ein Haus der Bildung, Kultur und Forschung. Der Vater (Philipp Hauß) versucht, so zeigt eine Szene am Anfang, Johann zu motivieren, es ihm gleich zu tun, zu lernen und seinen Vergil auf Latein parat zu haben. Der Junge ist in dem Alter, wo Rebellion zum Programm gehört, die indes erstickt wird durch die Umstände, als der Vater kurz darauf verschwunden ist. Der aufrührerische Geist wird gewissermaßen entkräftet und entmachtet durch die Situation, dass derjenige, mit dem immer auch ein Kampf auszutragen ist, »nicht mehr da ist und auf einen aufpasst«. Überhaupt ist der Einbruch des ganz Anderen in ein ‚normales’ Leben ein Schock, der Tag um Tag neue Wellen ausstrahlt.
Wie definieren sich Mutter und Sohn im Verhältnis zueinander und zu dem abwesenden Dritten? Und wenn dieser Mann und Vater wiederkehrt, ist er dann noch der, der er zuvor gewesen ist, nachdem er seine Aneignung als »Vergewaltigung« erlebt hat, wie Reemtsma es »Im Keller« nennt? Der körperliche Zu- und Übergriff, der Freiheitsberaub bleibt als Erfahrung, aber was tun, damit sie nicht dominant wird? Fragen, die im Hintergrund stehen.
Die kaum fassliche Ambivalenz in den Gefühlen, der Aufenthalt in den Schweige-Löchern, der subjektiv empfundene Stillstand der Zeit, das Schwinden von Sicherheit, der Mut erfordernde Entschluss, eigenständig zu handeln, um Jan Philipp freizubekommen: All das loten Scheerer, Schmid, sein Co-Autor Michael Gutmann, Claude Heinrich und Adina Vetter in aller Genauigkeit und in einem eng begrenzten Raum mit beunruhigender Stille aus. Kein Film, der explosiv hochschlägt, sondern dem Implodieren nachspürt. Spannung, unbedingt, aber nicht auf Kosten von Intelligenz, tiefer Emotion, Takt und Seriosität. Ein Meisterstück.
»Wir sind dann wohl die Angehörigen«, Regie: Hans-Christian Schmid, D 2022, knapp 120 Min., Start: 3. November