TEXT: ANDREAS WILINK
So geht deutsche Romantik – Landschaft im Nebel, ein Mond vor stillem Wald, ein Fleisch gewordener Schreckens-Alb aus einer Laterna Magica, der das Ideal von Beseeltheit bedrückt. Requisiten romantischer Lyrik, die auch Heinrich Heine benutzt (und überwunden) hat. Dazu erklingt zart Haydns Kaiserquartett. Alexander Kluges Episode im Collage-Film »Deutschland im Herbst« von 1977 beginnt so, der den Neuen Deutschen Film auf dem Höhepunkt seiner gesellschaftskritischen Kraft und Kompetenz zeigt.
Der Heimatkundler Kluge verbindet hier: die Toten von Schloss Meyerling, Franz den Kaiser, den Götterdämmerungs-Staatsakt für Erwin Rommel, der sich auf Geheiß Hitlers 1944 vergiftete; 33 Jahre später in Stuttgart, wo nun Manfred Rommel, Sohn des Reichsmarschalls, Oberbürgermeister ist, den Staatsakt für den von den RAF getöteten Hanns-Martin Schleyer; den durch den deutschen Geheimdienst 1938 ermordeten serbischen König; einen verhafteten Türken, der in Stuttgart in der Nähe des Staatsakts mit einem Gewehr angetroffen wurde; eine Kamerafahrt entlang von Mercedes-Limousinen im Stuttgarter Werk und den Blick hinter die Kulissen des Empfangs von Baden-Württembergs Staatsregierung. Und dann ist da noch Gabi Teichert, Geschichtslehrerin und »Patriotin«, die auszieht, einen Unterstand für den Weltkrieg zu buddeln, oder sich archäologisch zu betätigen, stapfend durch deutschen Unschlitt, trotzig, wehrhaft, rebellisch, nicht mundtot zu machen. Wie ihr Erfinder Kluge gräbt sie die Geschichte um. Prüft deren Material und deren Heroen.
Hier wird Kluges Methode der Montage – das Zusammendenken weit auseinander liegender historischer Ereignisse, Verläufe und Lebensläufe (im Film und in der Literatur) – anschaulich. Auch Kluge horcht mit dem Echolot tief in den Brunnen der Vergangenheit. Und führt unaufhörlich ein noch im Hässlichen schönes Gespräch und Selbstgespräch, das er als seinen »inneren Chor« bezeichnet, über die Zeit in ihrer Kugelgestalt hinweg.
Kluge kommentiert nicht oder doch nur indirekt, er erzählt, komponiert, kombiniert und assoziiert dialektische Fabeln. »Die Erzählungen der Geschichte. Wir müssen sie nur hö-ren … Freud sagt, man muss an den Widerstandslinien entlang erzählen. Das Schwierige, Unverstandene ist das, was nach Erzählung verlangt.«
Stichdaten. Eines ist der 30. April 1945, ein Montag, dem er jüngst erst ein Buch (»Der Tag, an dem Hitler sich erschoss und die Westbindung der Deutschen begann«) gewidmet hat, zersplittert und vernetzt in Momentaufnahmen, Episoden, Fragmenten, weil das große Ganze zerbarst oder noch zerbirst. Kluges Kontextualisierung und Simultanverfahren en detail funktioniert wie das Musiktheater des Bernd Alois Zimmermann, ein Roman von Joyce und Woolf, ein Buch von W.G. Sebald, wie die Inszenierungen von Katie Mitchell. Und wie die Filme des von ihm verehrten Godard. Neben vielem anderen schrieb dieser Sammler und Forscher 2.000 Seiten einer »Chronik der Gefühle«, die Kolportage, Tatsachen, Fiktion und Reflexion, das Besondere und Allgemeine, Ich und Wir mischt. Und die Bilder projiziert. Gelernt haben wird er auch von Hebel, Benjamin und Bloch. Kalendergeschichten für Heute und Morgen.
Wie ein Cutter lässt er die Vereinbarkeit des Unvereinbaren zu und koexistieren. Zum Wiedererkennen des Unbekannten. Vom IS-Terror zurück zur Französischen Revolution und zu Jeanne d’Arc – ein Gedankensprung. Er erzählt mittelbar, Distanz haltend »als exakter Beobachter und gleichzeitig als intensiver Wünscher«. Wirksames Instrument ist dabei (in seinen legendären Interviews) die Stimme: diese nachdrücklich tastende, zuvorkommend insistierende, ihr Gegenüber suggestiv sacht lenkende (gelegentlich bevormundende) Stimme eines besonnenen Animateurs.
Kluge, der weiß, dass »ohne Hoffnung die Fakten nicht aufnehmbar sind«, ist kein Alarmist, kein Apokalyptiker. Angenehmerweise. Er hat Augenmaß. Ein geduldiger Mensch, was er sich auch mit einer großmütterlichen englischen Linie erklärt. Gerade deshalb wiegt seine Erkenntnis schwer: »Die Geschichte ist voller Tretminen und Blindgänger; obwohl lange unbeachtet oder vergessen, können sie jederzeit hochgehen«, so Kluge im Interview mit dem Spiegel.
Düsseldorfs mit 50.000 Euro dotierter, am 13. Dezember verliehener Heinrich-Heine-Preis würdigt – sehr spät – ein imponierendes, merkwürdiges Werk, in dem sich intellektuelle Brillanz und erzählerische Originalität, Analyse-Schärfe, spekulative Subjektivität und Empathie durchdringen. Für die Jury knüpft Kluge »als wichtiger Vertreter der kritischen Theorie an das poetische, publizistische und politische Schaffen Heines an«. Jedenfalls hat er sich der Sünde der Acedia, der Trägheit des Herzens, nicht schuldig gemacht. Dafür stehen nicht nur die mit Oskar Negt in Kooperation verfassten Werke »Öffentlichkeit und Erfahrung« (1972), »Geschichte und Eigensinn« (1981), »Maßverhältnisse des Politischen« und die Sammlung »Der unterschätzte Mensch«. Kluge, ein Menschenfreund – vielleicht, der wenig mehr gelten lässt als den gestirnten Himmel über sich.
Dass Kluge 1968 in Venedig den Golden Löwen und 2003 für sein literarisches Werk den Georg-Büchner-Preis erhielt, zeigt die Spannweite dieses Universalkünstlers und Grenzgängers in den Genres. Alexander Kluge ist einer der wenigen großen Eigensinnigen in der deutschen Kultur nach 1945 – ein Querkopf wie Einar Schleef, wie Fassbinder, wie Schlingensief, wie Heiner Müller, mit denen er (teils filmisch dokumentiert) Austausch pflegte.
Kluge wurde am 14. Februar 1932 in Halberstadt als Arztsohn geboren, wo er als 13-Jähriger den Luftangriff auf seine Heimatstadt erlebte, der sich ihm buchstäblich eingeschrieben hat. Eine Sprengbombe schlug zehn Meter entfernt von ihm ein. Krieg hat den Anti-Militaristen geprägt. Er spricht von einer »Allergie« gegen den Krieg und zitiert Ernst Jünger: »Aber wer die Massaker nicht erinnert, pflegt sie.« Aufgewachsen in Berlin, studierte er in Marburg und Frankfurt Jura, Geschichte und Kirchenmusik. Eine Parallele zu Heine, der in Bonn, Göttingen, Berlin lieber Schlegel und Hegel hörte, als Vorlesungen in Rechtswissenschaften, die er belegt hatte und in denen er dann auch promoviert wurde.
Dr. jur. Kluge absolvierte sein Referendariat am Institut für Sozialforschung und fand nach der von seinem Mentor Theodor W. Adorno vermittelten Begegnung mit dem aus dem Exil heimgekehrten Fritz Lang als dessen Volontär 1958 zum Kino, wurde Mitunterzeichner des »Oberhausener Manifests« und mit seinen Spielfilmen und essayistischen Arbeiten zum Kopf des Neuen deutschen Films und Autorenkinos. Er bleibt fasziniert von der elften Kunst und ihrem Wechsel zwischen Hell und Dunkel in jedem 48stel einer Sekunde. »Diese winzige Pause, die wir bewusst nicht wahrnehmen beim Filmgucken, bringt Unbewusstes, Vorbewusstes im Menschen hervor. Das ist es, was ich den Zauber der verdunkelten Seele genannt habe.« Vorher schon erlebte der Junge Alexander in Berlin »durch den Wechsel von Licht und Dunkelheit im U-Bahn-Tunnel die Vorstufe des Kinos«.
Filme wie »Abschied von Gestern« mit dem zentralen Satz: »Uns trennt vom Gestern kein Abgrund, sondern die veränderte Lage«, »Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos« und »In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod« wurden sprichwörtlich, selbst wenn ihr hermetischer Charakter auf der Skala gegenüber denen des konfektionierteren Schlöndorff liegt und sie nie große Publikumserfolge wurden. Enno Patalas schrieb mit Blick auf »Abschied von Gestern«, Kluges Werke glichen einem Mobile: »Die Verschiebung irgendeines seiner Teile korrigiert automatisch die Position aller anderen«.
Der Filmtheoretiker, Filmpolitiker (Kluge hat sich maßgeblich engagiert für die deutsche Filmförderung) und Spät-Avantgardist, der aus dem Geiste Eisensteins Karl Marx’ »Kapital« vielstündig verfilmte, hat zugleich als Fernseh- und Internet-Pionier mit seiner Produktionsfirma dctp in Düsseldorf eine Nische im Privatfernsehen gefüllt. Der korrekte Herr mit den vielen Telefonnummern, der Hirnkünstler (»Wir haben ein Steinzeitgehirn«), listig kühle Sinnsetzer und Verfertiger von Gedanken im Sprechakt ist eben auch ein Zampano und Mandarin auf dem Medienmarkt. Institutionen und Instanzen hat er sich unterworfen.
Scheinwirklichkeiten fliegen bei ihm auf zugunsten einer »Gesamt-realität, die unterirdisch miteinander verbunden ist«. Das Medium dafür sind Kunst, Oper, Film und Literatur – Kraftwerke der Gefühle. Es gilt, »diese wirkliche Realität gegenüber dem aktuellen Wochenprogramm der Nachrichten zu verteidigen«. Großereignisse und Alltag geraten in Reibung aneinander. Manchmal liegt auch Komik in der Katastrophe. Ein Humor des Grotesken und des Aberwitzes.
Kluge, ein Bewunderer der kleinen Dinge, denen er »bessere Durchsetzungschancen« einräumt als den großen Knallern, bringt bzw. denkt politisch korrekte Hierarchien durcheinander. »Wir verarbeiten die Eindrücke nicht hierarchisch. Wir holen sie uns, wenn wir sie brauchen und setzen sie ein, wie wir sie brauchen.« Den Ernstfall erspart er seinem Publikum nicht.
Kluge – ein nicht böswilliger Mephisto und natürlich ein nicht verzweifelnder Faust – betreibt das Denken lustvoll als höheren Jokus. Erhebt die Anekdote, den Aphorismus und die Miniatur zum Lehrstück und pflegt gegen »sentimentale Verwirrung« sein Projekt der Aufklärung und der Übersicht, wobei er einen Erzählraum von mindestens 70.000 Jahren in den Blick nimmt, seitdem der Mensch aus Afrika auf den Plan trat. Aber die Perspektive weitet sich noch: 4,2 Milliarden Jahre, errechnet Kluge, »ist unser Gefährte, der Planet, alt. Wir tragen in unseren Körpern 4,2 Milliarden Jahre Schatzbildung.«