TEXT NICOLE STRECKER
Beim Schweden Mats Ek trugen sie Glatze und watschelten auch schon mal in breitbeiniger Gravität über die Bühne. Bei Stephan Thoss waren ihnen die Flügel gestutzt: Kaum mal durften die Tänzerinnen ihre Arme benutzen, sie pressten mit ihnen den Tüll ihrer Tütüs an die nackte Brust, die Bewegungseinschränkung machte sie herzzerreißend wehrlos gegen die übergriffige Menschheit. Bei Matthew Bourne waren sie aggressiv-männliche Wildvögel, die den Prinzen zur homoerotischen Selbsterkenntnis führten. Bei Dada Masilo gibt es den Schwan nur in Schwarz, bei Balanchine, bei Cranko, bei Nurejew, bei Neumeier, bei Spoerli… Schwäne über Schwäne. Der Vogel hat sie alle betört.
Es ist wie bei den Wildtierjägern. So wie die ihre Big Five geschossen haben müssen, müssen Choreografen einmal einen »Schwan« erlegt haben, eigentlich natürlich nicht erlegt, nur unterläuft das nicht selten den zahllosen Schwärmern. Man müsste einmal nachzählen, ob es mehr Strawinsky-»Frühlingsopfer« oder mehr Tschaikowsky-Vögelopfer in der Tanzwelt gibt. Meilenstein jeder Choreografen-Karriere sind sie beide. Was hat nur dieser »Schwan« mit der Sparte gemacht?
»Gespalten hat er sie.« Derjenige, der das sagt, ist selbst ein ewig Gespaltener. »Mir war ‚Schwanensee’ immer langweilig.« Martin Schläpfer spricht von seiner Zeit als Tänzer. Für ihn waren die wirklich großen Choreografen immer abstrakte Choreografen: William Forsythe, Jiří Kylián, Hans van Manen, George Balanchine, Erfinder einer eigenen Bewegungsästhetik, Erneuerer des Balletts. Als er selbst zu choreografieren begann, sei ihm klar gewesen: »Zuerst üben. Zuerst eine Form finden. Dann besser werden. Und nicht das Übliche: Ein Handlungsballett, dann hat man das Haus voll.«
Schläpfer wurde mit Handlungsballetten (unter anderem von Heinz Spoerli) ballett-sozialisiert. Er tanzte aber wegen seiner Statur weniger Haupt- als Nebenrollen, also die Witzbolde und Buddies der Prinzen, wie etwa Siegfrieds bester Freund Benno in »Schwanensee«. Vielleicht auch deshalb bekam jahrelang jeder ein schweizerisch-gutturales Knurren zu hören, der Schläpfer nach einem Ballettmärchen fragte. Heute sagt er: »Ich bin jetzt neun Jahre in Düsseldorf, und man braucht gewissen Instinkt, um die Spannung hoch zu halten. Man sollte nicht berechenbar sein, weder für einen selbst noch für das Publikum. Es ist einfach Instinkt: Erst immer Nein zu sagen und es dann plötzlich doch zu tun.« Wie immer bei Schläpfer – die Inspiration wächst mit dem Widerstand. Aber wenn er dann im Gespräch lange über die einzelnen Verästelungen der Handlung grübelt, wenn er jede einzelne Figur so lange dreht und wendet, bis er ihre Abgründe und Triebkräfte begreift, wenn er wieder einmal betont, wie sehr er die klassische Akademik, das Ballett als Form doch liebt, dann wird schnell klar: Sein Widerstand galt nie dem Stück selbst. Er galt dessen Kult. Denn Ballett und »Schwanensee«, für nicht wenige sind das noch immer Synonyme.
Bolschoi-Theater Moskau, 1877. Die Ballettdirektion gibt ein neues Tanzstück in Auftrag. Peter Tschaikowsky komponiert, Wenzel Reisinger choreografiert, genauer: Er erfüllt die Bedürfnisse der Kompanie-Stars. »Man hat sich daran orientiert, was zur Kompanie und zum damaligen Ballerinenkult passte«, erklärt Thomas Thorausch, stellvertretender Leiter am Tanzarchiv Köln. »Also wurden Teile der Komposition umgestellt und erweitert durch zusätzliche Musikstücke. Und in die Choreografie wurden spezielle Tänze für die Solisten integriert.« Eine Inszenierung als Huldigung der Virtuosen also? Ein Flop.
18 Jahre später aber nehmen sich zwei Routiniers der Sache an: Marius Petipa und Lew Iwanow. Die beiden greifen zwar ebenfalls beherzt in die Komposition ein, aber sie erarbeiten eine Roh-Fassung, die nicht mehr vom Spielplan des Mariinski-Theaters verschwindet. Die Ballerinen dürfen sich auch in ihrer Version austoben. Dürfen weißer und schwarzer Schwan zugleich sein, dürfen mit den berühmten 32 Fouettés, den beinschlagenden Pirouetten, die Adligen des Königshauses vom Platz fegen, und immer neu den Mythos von der Ähnlichkeit zwischen tänzerischem und tierischem Luftwesen beleben. Amüsant sei, findet Thorausch: »Anna Pawlowa und Maya Plissetzkaja erzählen fast identisch davon, wie sie sich der Schwanenrolle angenähert hätten durch Beobachtung der Tiere im Zoo, Plissetzkaja will sogar eine Arabesque bei einem Schwan beobachtet haben.« Allerdings, auch die Petipa/Iwanow-Fassung wird mehrfach überarbeitet. Der angebetete Original-»Schwanensee« – eine Legende?! Doch werde sein Relikt heute »super getanzt«, meint Martin Schläpfer: »Ist immer noch heiß. Ich habe großen Respekt davor.« Natürlich, so der Neu-Erfinder lakonisch, werde man ihn killen für seinen eigenen Versuch.
Warum also trotzdem? Letzten Ausschlag gab für Schläpfer eine musikalische Interpretation. Er hörte eine Version von Seiji Ozawa mit dem Boston Symphony Orchestra, die so gar nicht »Schönklang und Ballettmusik« gewesen sei. »Sondern das hat eine solche Wucht, es peitscht, ist vielleicht sogar ein bisschen hölzern manchmal. Da dachte ich: So kann man.« Wenn es nach Schläpfer geht, sollen sich die Düsseldorfer Symphoniker ähnlich entfesselt in die nachtschwarzen Tiefen des Schwanensees stürzen, die den Prinzen Siegfried unwiderstehlich anziehen.
Die Frage sei doch immer, meint Thomas Thorausch, »wie geht man aus dieser Geschichte raus als Mann, als Siegfried?« Bei Schläpfer soll der Prinz nicht schwul, nicht neurotisch sein, einfach ein Unangepasster, der sich den Konventionen – Frau, Heirat, Kinder, Thron – entzieht, der »ausschert im Kopf«. Deshalb ist er empfänglich für den Zauber der Schwäne, tanzt mit ihnen aus der Wirklichkeit des Königshofs in eine Märchenwelt hinein. Die Geschichte einer romantischen Ich-Entgrenzung also? Ein bisschen Schläpfer im Siegfried? »Es gibt diese Sehnsucht nach dem Außergewöhnlichen im Leben. Der Sensible, der mehr will, sei es durch Liebe oder Drogen, das ist doch etwas, das in uns hockt. Schlussendlich ist es nur das, dass man woanders hin möchte. Aus der Realität hinaus.«