Mit ihrem neuen Roman »Antichristie« beweist Mithu Sanyal einmal mehr Mut zur Originalität. Ein Leseerlebnis, das anstrengend ist. Und wichtig.
Mithu Sanyals Mut zum außergewöhnlichen Plot zeigte sie bereits mit ihrem Debüt »Identitti«, das 2021 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand. Mit ihrem ausgeklügelten Diskursroman überIdentität und Racegelang ihr ein Coup, der in Sachen Innovation zuletzt im Deutschen Literaturbetrieb seinesgleichen suchte. Mit »Antichristie« zieht die Düsseldorferin jetzt nach und reiht sich gleich wieder auf der Longlist des Deutschen Buchpreises ein. Auch in »Antichristie« schreibt Sanyal gewohnt unerschrocken und verknüpft eine originelle Story mit viel (!) Diskurs.
Kurz nach dem Tod ihrer Mutter reist die 50-jährige Durga nach London, um in einem Writer’s Room die Filme Agatha Christies antirassistisch zu überschreiben – just an dem Tag, an dem die Queen stirbt. Während protestierende Briten den politisch korrekten Autor*innen die Verfälschung wichtigen Kulturguts vorwerfen (»Cancelt die Canceler!«), heizen sich die Debatten im Writer’s Room auf: Sollte Christies belgischer Detektiv Poirot nicht Schwarz sein? Darf man Tee aus dem Sklavenhandel trinken? Und was sind die Unterschiede zwischen Kolonialismus und Nazi-Faschismus? Die deutsch-indische Autorin geht mit maximal sensibilisierten Blick durch die Welt und scannt sie kontinuierlich auf sämtliche Ismen ab. Bis sie durch eine ominöse Zeitreise im Jahr 1906 landet – im Körper eines Mannes. Sie findet sich im India House wieder, einem Londoner Boarding House für indische Studenten, in dem Mahatma Gandhi und Vinayak Damodar Savarkar über Revolutionen streiten. Durga gibt sich in ihrem männlichen Körper als Sanjeev aus, akzeptiert ihr Schicksal als Zeitreisende(r) größtenteils widerstandslos und wird zum Teil einer revolutionären Gruppe um Savarkar. Jener Anführer, der ihr als hindu-nationalistischer Ideologe galt – und der eine erstaunliche (erotische) Anziehungskraft auf Durga alias Sanjeev ausübt. In India House besteht der Alltag, neben dem Bauen von Bomben, aus Diskussionen – nur Zeitgeist und Perspektive haben sich geändert.
Überbordendes Referenzsystem
Sanyal wagt den Deepdive in den Diskurs anhand historischer Persönlichkeiten wie Madan Lal Dhingra oder Shyamj. Es geht um die Teilung Indiens, um Kasten, den Unterschied zwischen Revolution und Attentat und um einen Kriminalfall: Plötzlich taucht – wer sonst – Sherlock Holmes in India House auf. Als Kulturwissenschaftlerin ist Sanyal die Meisterin des überbordenden Referenzsystems, das in »Antichristie« neue Dimensionen annimmt und auf außerordentliche Recherchearbeit schließen lässt. Neben den Hauptthemen der indischen Revolution, des Postkolonialismus und Rassismus, schneidet sie alles an, was nur geht, und dürfte damit einige Leser*innen stellenweise verlieren (oder zum Googlen animieren). Dann etwa, wenn Sherlock und Savarkar über Hegel diskutieren, es noch um Verschwörungstheorien oder Doctor Who geht – der sich wie ein roter Faden durch den Roman zieht. Man könnte genervt sein von der Dichte an Informationen und Namen. Wäre da nicht Sanyal mit ihrem Humor und ihren pointierten Entlarvungsstrategien der eigenen eurozentrischen Ignoranz: »Genau, das ist ja das Problem! Ihr wisst nichts über uns, deshalb wollt ihr nicht zu viele von uns in euren Geschichten haben. Und weil wir wiederum nicht in euren Geschichten vorkommen, wisst ihr nichts über uns.«
Lesungen:
7. Oktober, Clara-Schumann-Gymnasium Bonn
9. Oktober, Theater Mönchengladbach
12. Oktober, Schauspielhaus Bochum
21. Oktober, Christuskirche Düsseldorf
10. November, Szene 10 Essen
13. Dezember, Alte Synagoge Lippstadt
Mithu Sanyal: »Antichristie«, Hanser Verlag, 544 Seiten.