TEXT: REGINE MÜLLER
Im Sprechtheater sind Originaltexte schon lange nicht mehr heilig. Im Musiktheater dagegen gilt die Partitur noch als unantastbar. Handelt ein Opernregisseur gegen dieses Gesetz, wird das Publikum gern zum Wutbürger. Erst recht, wenn es sich um ein Belcanto-Bonbon wie Vincenzo Bellinis »Norma« handelt, das ohnehin am liebsten konzertant gegeben wird. Ein schwerer Brocken. Die Geschichte spielt im ersten Jahrhundert vor Christus im von Rom besetzten Gallien, so konnte der Komponist unbehelligt von der Zensur Anspielungen über die aktuelle Situation Italiens des Risorgimento unterbringen. Zudem ist der endlose Ziergesang szenisch mühsam in Fluss zu bringen. In Bonn wehrt der junge Regisseur Florian Lutz sich offensiv gegen den Kult-Charakter der Oper und bricht das langatmige Geschehen mehrfach auf. Er führt einen fiktiven Regisseur ein (Robert Silbernagl), in dem lokale Besucher den ausrangierten Bonner Intendanten Giancarlo del Monaco erkennen sollen. Als öliger Typ mit Zigarre tritt der noch vor der Ouvertüre auf und kündigt an, das Publikum müsse nicht die gewohnten 20 Minuten auf die Glanzarie »Casta diva« warten. Sie wird kurzerhand sofort, aber konzertant vor dem Vorhang angespielt und mittendrin abgebrochen. Die Szene öffnet sich nun für eine leere Bühne. Ein Wald rollt herein, Römer und Gallier in Asterix & Obelix-Optik marschieren auf. Für den persönlichen Konflikt Normas zwischen Pflicht (zu ihrem Priesterinnen-Amt) und Neigung (zum Feind ihres Volkes) zieht man sich auf die Theater-auf-dem-Theater-Ebene zurück, unter anderem mit dem Römer Pollione als italienischem Rennstall-Manager Flavio Briatore. Das Dreieck zwischen Norma, Pollione (George Oniani mühelos in den Spitzentönen, aber etwas steif) und Adalgisa (grandios: Nadja Stefanoff) ist backstage verlegt, bevor sich Comic-Klamauk und Theater-Bespiegelung zunehmend stören, vermischen und in eins fallen. Der Preis ist hoch, denn durch das rabiate Verfahren nehmen auch Bellinis fragile Spannungsbögen Schaden, zumal Robin Engelen am Pult zu stark auf retardierende Momente setzt. Miriam Clark bewältigt die Norma bravourös mit dunkel timbrierter Mittellage und voluminös aufblühender Höhe. Der Eindruck bleibt zwiespältig.