Ein Leben im Stakkato-Stil. So könnte man Tildas Alltag beschreiben. »Straßenbahn, Übungsaufgaben lösen, Schwimmen, Ida. Der Übungszettel ist machbar, und ich schaffe es, alle Aufgaben während der 69-minütigen Fahrt von der Uni zum Schwimmbad zu lösen.« So beschreibt Caroline Wahl den Lebensrhythmus dieser jungen Frau, die täglich 22 Bahnen schwimmt, um im ewigen Kreislauf aus Verpflichtungen und Vernunft nicht unterzugehen. Denn Tildas Mutter ist alkoholabhängig, das Geld knapp. Die Väter sind abwesend. »22 Bahnen« beschreibt den verzweifelten Kampf zweier Schwestern, damit umzugehen.
»Wir sind eine Familie. Wir sind ein intakter Organismus, wir funktionieren zusammen. Gestört werden wir nur durch den letzten Teil unserer Familie. Also eigentlich sind wir eine überwiegend intakte Familie. Zu 66,67 Prozent. Wir sind intakte Schwestern. Zu 100 Prozent.« Tapfer versuchen die beiden Mädchen, ihren Alltag zu bewältigen. Während Tilda die Fünftklässlerin versorgt, jobbt, für die Uni lernt, hat sich ihre Mutter – mal verzweifelt und selbstzerstörerisch, mal scheinbar selbstgefällig – in ihrem Suchtalltag eingerichtet. Platz für Freundschaften, Freizeit, Flirts bleibt der Anfang 20-Jährigen kaum. Ihre Freunde haben die triste Kleinstadt längst verlassen. Tilda wirkt so wie eine Gestrandete, die täglich ums Fortkommen kämpft – und doch scheinbar zwischen Alltagssorgen und Selbstverpflichtungen stagniert.
Mama macht nichts
Caroline Wahl zeichnet ihre Figuren souverän und mit Wärme, gibt ihnen Mut, Sperrigkeit und einen anrührenden Hang zu Schrulligkeiten: Nahezu manisch malt sich die kleine Ida in Traumwelten, während die große, überkontrollierte Schwester versucht, ihrem Alltag durch ihr Mathematik-Studium Strukturen zu geben. Da werden die kompliziertesten Aufgaben stoisch auf Papier und nicht am Computer gerechnet, Tag um Tag Bahnen im Schwimmbad gezählt oder Lebensmittel auf dem Fließband der Supermarktkasse, an der sie täglich sitzt. Gesprochen wird immer nur so viel, wie nötig ist: Um einander zu versichern, dass im Alltag mit dem Mutter-»Monster« doch noch Raum für Liebevolles bleibt. »Ida: Denkst du, dass sie irgendwann gesund wird? Ich entscheide mich gegen eine Lüge und sage: Nein. (…) Während ich die Hühnersuppe koche, sitzt Ida am Esstisch und macht Hausaufgaben, Mama liegt auf dem Sofa im Wohnzimmer und macht nichts.«
Wie schon in Annika Büsings lesenswertem Debüt »Nordstadt«, für das die Bochumerin 2022 den Literaturpreis Ruhr gewann, ist es wieder ein Schwimmbad, das hier zum Schauplatz wird. Als Ort, an den sich die beiden Mädchen flüchten können, abtauchen. Auch Tildas Geschichte ist eine, die von Abgründen erzählt, von Zwängen und Verantwortung, aber auch von Liebe und Freiheit: Tilda trifft im Schwimmbad auf den Bruder eines verstorbenen Freundes, der seine Familie bei einem Unfall verloren hat. Viktor ist schön, schwierig und umgeben von einer großen Trauer. Und vielleicht gerade durch seine Sperrigkeit der Richtige, um Tilda zu befreien. Sich freizuschwimmen. Ins Leben.
Caroline Wahl: 22 Bahnen, 208 Seiten, DuMont, 22 Euro
18. September, Villa Friedlinde, Lohmar
19. September, Buchhandlung Hilberath & Lange, Mülheim
14. November, Rohrmeisterei, Schwerte
16. November, Buchhandlung Bolland & Böttcher, Düsseldorf