Es ist anstrengend. Eine Strapaze. Es schenkt das Glück der Erkenntnis. Das Theater, das Laurent Chétouane macht, fordert zum Denken heraus. Schafft eine »Erotik des Denkens«, wie der Regisseur emphatisch ergänzt. Ein Apparatschik des Intellekts ist er nämlich nicht.
»Hoppeln tun andere«, sagte Einar Schleef, wenn er davon sprach, wie andere das System bedienen, taktisch agieren, sich produzieren und reüssieren. Ein Blick aufs deutschsprachige Theater reicht. Die Besten- und Einladungslisten füllen zur Hälfte jene Namen, die das Hoppeln aus dem ff beherrschen, ihre Methode perfekt drauf haben und Metropolentheater als Touristenfalle betreiben. Kurz und bündig, lustig, leicht und locker. Theater in dürftiger Zeit.
Für Laurent Chétouane, Jahrgang 1973, »fliegt das deutsche Theater nicht genug«. Eine gute Aufführung wäre eine, »die an die Grenze ihrer Beschreibbarkeit gerät«. Chétouane spricht wie gedruckt, präzise formulierend, selbstbewusst – ein Autonomer. Konsequenter Einzelgänger im deutschen Theater, nicht nur, aber gewiss auch, weil es ihn mit einer fremden Sprache in Berührung brachte. Die er untersucht wie der Anatom einen Organismus oder besser, wie Frankenstein, der Lebloses in Atmendes verwandeln will.
Geboren im westfranzösischen Angoulême, einem Knotenpunkt auf dem Jakobsweg, lebt er heute in Berlin, wenn er nicht in Hamburg, München, Weimar, Essen – oder am Schauspiel Köln inszeniert. Nach einem Ingenieurstudium und erfolgreichem Berufsbeginn, endete die rationale Lebensphase mit einer Krise der Erkenntnis für den Homo Faber. Chétouane: »Ich musste verstehen, wer da spricht.« Ein Neubeginn. »Ohne Deutschland hätte ich den Sprung nicht gemacht.« Nicht ein Stipendium war entscheidend, um nach Dortmund zu gehen. Die Liebe war es, und die dauerte elf Jahre. Im Ruhrgebiet erfolgte der Kontakt zum Theater, während der Haußmann-Ära in Bochum, und daraus alles weitere, zunächst das Regie-Studium in Paris und in Frankfurt bei Hans Hollmann.
Fasziniert von Konstruktionen, von Mathematik und Physik ist er immer noch. Einen deutschen Satz vergleicht der Glasperlenspieler mit einem Gedankengebäude, »fast wie ein Legospiel«, einen französischen Satz mit einem Fluss.
Chétouane ist eine Herausforderung – nicht nur für sich. Dumme Menschen sagen, er mache L’art pour l’art, sein Theater sei starr, leblos, rhetorisch. Intelligentere sagen, es sei Postregietheater. Chétouane sagt: »Es ist nicht gegen das Publikum und nicht für das Publikum.« Dann zitiert er Sarah Kane: Man schreibe »für die Toten«. Und Kafka: »Schreiben für die Ratten«. Seine Inszenierungen verschieben Grenzen: Theater, das aus dem Gewohnten heraustritt. Wenn das Kunststück gelingt, kann man Darsteller beim Denken beobachten und bei der Verwandlung dieses Vorganges in Sprache. Dichten und Denken als Gegenschöpfung. Da liegt Hölderlin nahe.
Dessen unvollendeten, vielleicht nicht zu vollendenden »Empedokles« las Chétouane als »Text, vor dem ich wegen seiner Abgründigkeit große Angst hatte«. Um die Aufgabe noch zu erschweren, kombiniert er in Köln Hölderlins Fragment mit dem von Brechts frühem »Fatzer«. Die Verbindung stiftet für ihn das Klangliche, Musikalische dieser zwei »poetischen Fabriken«. Was diese produzieren, »kann man stottern nennen, bremsen oder bellen«. Walter Benjamin wird zitiert als Kronzeuge. Der habe geschrieben, man müsse durch Hölderlin zu Brecht gelangen. »Ganz bescheuert kann ich also nicht sein.«
Empedokles lauscht auf den »Akkord mit allen Lebensdingen« angesichts einer sich selbst entfremdeten Gesellschaft und steht prophetisch am Wendepunkt und vor den Trümmern einer großen Vision. Er wählt den Opfergang, wagt den Sprung in den Ätna und bejaht seinen Tod freudig: als Verheißung, Erlösung, Befreiung und revolutionären Akt. Brechts »Fatzer«-Blätter wiederum erzählen von vier Deserteuren des Ersten Weltkriegs, die es nach Mülheim an der Ruhr verschlägt, und vom »Untergang« eines Egoisten, indem Klassen- und Ego-Kampf, Einsatz für die anderen und sozialparasitäres Verhalten oppositionelle Elemente bilden.
Den »harten Bissen« Fatzer, wie Brecht 1928 an die Weigel schrieb, versucht Chétouane auf der von Marie Holzer als Baustelle getarnten Bühne – die Erde ist unbewohnbar wie der Mond – gar nicht erst aufzuweichen. In einer ausgeklügelt präzisen, sich selbst verzehrenden Choreografie vollzieht sich eine Meditation über den Text und seine Konstellationen; erschwert dadurch, dass die zwei Darsteller und eine Tänzerin sich in die Figuren teilen und sie formal skelettieren. Um die im Prolog beklagte Unordnung und Uneinigkeit könnte auch der Weltflüchtige Empedokles trauern. Tut es aber nur solistisch: als Intermezzo und Einschub ins große Brecht-Ganze, während der Eiserne Vorhang fällt und Fabian Hinrichs und Jan-Peter Kampwirth imponierend zärtlich, ja gebetshaft um Hölderlins Verse ringen. Beide Stück-Entwürfe bleiben ohne Kontakt. Kein – im physikalischen Sinn – Energiefluss, kein Impuls, keine Spannung entsteht. Hölderlins geheimeres Verlangen geht in Brechts demonstrativem Lehrstück auf – und unter.
Auf der Bühne interessiert Chétouane das, was zwischen Sprache und Körpern passiert. So entstehen Liturgien, die vielleicht nur jemand zelebrieren kann, der Deutsch als Fremdsprache ausbuchstabiert. Der Schauspieler ist wie ein durchlässiges Gefäß, durch den Inhalt fließt. Muss bereit zur Empfängnis und zugleich Erzeuger, soll »Material« sein und offen für den Prozess. Dafür erhält er etwas zumeist kaum Gekanntes: einen neuen Begriff von sich. Das kompakte Ich zersprengt zu Pluralitäten. »Die Abwesenheit von einer Subjekt-Vorstellung macht es den Leuten schwer, mein Theater zu verstehen.« Das kann schon mal zum Chor von Buhs ausarten, wie nach der Hamburger »Woyzeck«-Premiere. »Woyzeck« von Büchners Lenz her gedacht: Qual, Not, Zwang waren rein sprachlicher Natur und von der Erhabenheit eines Bach’schen Oratoriums. Ein Sprachbehinderungs-Drama. Devid Striesow, der klare, unangestrengte Schauspieler, spielte zugleich mit Woyzeck: Kleist, Faust, Beckett und Fritz Langs »M«-Peter Lorre. Hans Mayer hat mit Blick auf Hölderlin einmal vom »progressiven Verstummen« gesprochen. Das trifft es – und gilt für jede Arbeit Chétouanes.
Ich würde riskieren, Wagemut, Wahnwitz und Behauptungswillen von Chétouane neben Klaus Michael Grüber und Einar Schleef zu stellen, auch wenn er sich neben diesen Giganten und Querköpfen eher filigran, zierlich, lebhaft und beredt ausnimmt. Das Gemeinsame liegt im Absoluten, in Vehemenz und Makellosigkeit und in der Bereitschaft zu scheitern. Da ist nichts lau.
Chétouanes Tollkühnheit zeigte sich extrem in seiner affektbesetzten »Iphigenie« an den Münchner Kammerspielen. Fast ein Pfingstereignis, durchweht von einer Windmaschine, deren Böen den klassisch humanen Geist Goethes umeinander wirbelten. Die Sprachbehandlung erreichte die Notierungen und Pausenzeichen einer Partitur. Fabian Hinrichs stieg in seine weibliche Iphigenie-Rolle wie in einen Traum und kam wie in Trance aus seinem Trauma nicht heraus. Eine in ihrer/seiner Identität, in ihren/seinen Häutungen, in ihrem/seinem Geschlecht befangene Iphigenie. Hinrichs bot die grandiose Verschränkung von Opfer- und Täterfigur, von Innigkeit und Penetranz, fremd und fragil bis zur clownesken Überzeichnung: Iphigenie oder das Drama des begabten, versehrten Kindes. Am Ende ist sie/er infiziert mit dem egoistischen Gen.
Chétouanes Theater verweigert die zwar reizvolle, aber letztlich etwas feige Unterscheidung von Sein und Schein als Spiel-Methode und als Generator des Bühnengeschehens. Für ihn ist dieser Gegensatz »eine Lüge, die die Dinge vereinfacht«. Sein radikaler Kunstanspruch, seine Forderung nach Relevanz stellt sich nicht als Behauptung dar, sondern erfüllt sich in der Lebens- und Arbeitsgestaltung. Im Kontemplativen. Dass er sich beim Dozieren bei seinen Studenten in Hamburg und Berlin entspannen und von der Konzentriertheit produzierenden Denkens erholen kann, ist typisch für ihn. Lieber geht er zum Rendezvous mit Deleuze in Buchform nach Hause, als auf einer Party der Theater-Bohème Zeit zu vergeuden – mit Leuten, die von Kunst reden, aber sie vom Verhalten her verraten. »Die Verachtung« wäre auch ein Stoff für die Theaterszene statt für den Filmbetrieb wie bei Moravia/Godard. Die Vulgarität des bloß Geschickten ist Chétouane zuwider.
Der romantische Sirenengesang eines »Unbewusst, höchste Lust« lockt ihn nicht. Er will volles Bewusstsein: Vorgänge transparent machen, sie durchschauen, sie erhellen, selbst um den Preis, dass das Licht der Erkenntnis blendet. Nicht abstrakt und kalt, vielmehr heiß und sinnlich ist für ihn der poetische Vorgang einer Formgebung, die sich mit normaler Sprachbehandlung nicht zufrieden gibt – »aus Mangel, Bedürfnis, Begehren«. Ein Text könne eine Wunde sein, sagt er. Goethe, Büchner, Hölderlin, Heiner Müller, auch Schiller stehen dafür ein. Für »die Lyrik des Hoffnungslosen« hegt Chétouane eine Passion, für die Katastrophe hat er Gespür. Kontrollverlust kann er nachvollziehen, wenn er wie bei Kleist oder Racine zu einem Quantensprung führt, die Existenz total vernichtet. Auf dem Sprung ins Ungeheure.
Das hat etwas Monströses. Eine Seite, die Chétouane in Lothar Trolles Gewaltprotokoll »Hermes in der Stadt« nüchtern vorführte. Christoph Luser spielte in München diesen Hermes als Genet’schen Mordbuben und mythischen Fremdkörper von beklemmender Grausamkeit und träumerisch geschmeidiger Unschuld, eine männliche Penthesilea, umnachtet von hellem Wahn.
Ist Chétouane sein kluger Kopf, der »gern hinter die Tapete schaut«, nicht manchmal hinderlich, die ständige Selbstüberprüfung nicht ein Irrsinn, macht die Denkhöhe nicht schwindlig? »Ich bin gern ein Problem für mich selbst – und für die anderen. Es gibt immer etwas zu sehen für mich. Das ist schon auch eine Überforderung. Aber ich möchte versuchen, auf der Höhe meines Blicks zu bleiben.« Alles sonst fände er zynisch und matt. »Es ist doch der Tod einer Generation und der Sieg des Systems, an nichts mehr zu glauben.« Wieder liegt Hölderlin nahe.
Zur Entspannung hört er atonale Musik. Und ans Meer zieht es ihn, an die heimische Atlantikküste. Der Wind und das Rollen der Wellen haben für ihn mit Rausch zu tun. Wildes Denken. Da bewegt sich was im Kopf. »Das Meer kann man nicht betreten – oder man löst sich auf.«
Die Theatermaschine zu bedienen, Wirkungsmechanik interessiert ihn nicht. Etwas, worin Shakespeare Meisterschaft auch besteht. Chétouane bevorzugt indes das Diskursive und Reflektierte von »Othello«, »Macbeth« oder »Hamlet«. Den hat er ebenfalls in Köln inszeniert, als Solo für Fabian Hinrichs in der Halle Kalk. Die beiden hatten bereits Büchners »Lenz« und die »Iphigenie« miteinander erarbeitet. Der »Hamlet«-Einzelkampf erzählt eigentlich ein ödipales Erkenntnis-Drama: Wie jemand sehen lernen muss. Auf der Gitarre klampft Hinrichs »Lasst mich sehen«.
Hinrichs ist beides: vegetatives Nervensystem und Kopfgeburt. Es hat etwas nekrophil Lüsternes, wie er die Rolle angeht und sich ganz auf das Schauspieler-Stück in Shakespeares Königsdrama wirft, in dem der Mord an Hamlets Vater als Theaterauftritt wiederholt wird. So lautet auch der erste Satz von Hinrichs: »Wo ist das Schauspiel? Was wünscht ihr zu sehen?« Was wir dann knapp zwei Stunden lang sehen, ist ein verzärtelter, schwermütiger, fast altväterlicher, asketisch-sehniger Jüngling, grübelnd, als würde der Text seiner Stirn entspringen wie Athene dem Zeus. Er liest »im Buch meines Gehirns«.
An der Prinzen-Tragödie beschäftige ihn, sagt Chétouane, »das Theater, das zweifelt«. Jemand habe über die Aufführung gesagt, berichtet er, sie beginne wie eine psychoanalytische Sitzung: Hamlet im Sessel mit dem Rücken zum Publikum. Ein Hamlet, der »die Zuschauer als Geiseln nimmt. Hamlet zu sein, ist kein Glück.«
Chétouane, brillanter Ausdeuter der eigenen Arbeit und ein Selbstinterpret von hohen Graden, erkennt im Theater den »Ort, wo man handelt, ohne zu handeln. Vielleicht sind wir Theatermacher alle so.« Also »tatenarm und gedankenvoll« im künstlichen Paradies – wie bei Hölderlin, wie bei Hamlet. Und nicht nur dort. Er wolle Theater machen, »bis es mich ausstößt«, sagt Laurent Chétouane. Aber auch, dass es Zeit für etwas Neues sei. Eine neue Sprache lernen zum Beispiel. Sie wird bei ihm immer Poesie haben.