TEXT: MARTIN KUHNA
»ALDI informiert« steht Woche für Woche über schlichten Anzeigen, mit denen der Discounter über neueste Billig-Angebote informiert. Aber sonst ist »ALDI informiert« nahezu eine contradictio in adiecto. Erst Gevatter Tod konnte ALDI Nord dazu bewegen, eine schlichte Pressemitteilung über den Seniorchef zu versenden. Mit nur wenig Spürsinn konnte man Stunden später vor einem Grab in Essen-Bredeney stehen und denken: zu spät. Zum ersten Mal wusste man, wo er war und konnte ihn einfach besuchen, aber er würde nun endgültig nichts mehr sagen: Vier (!) Tage vor der Pressemitteilung war Theo Albrecht gestorben.
In den Medien erschienen daraufhin die üb-lichen »Aldibrüder«-Geschichten mit Daten, Anekdoten und Mutmaßungen, die Journa-listen faute de mieux seit je voneinander abschreiben, einschließlich Fehlern und Mythen. Nur der Spiegel ragte ein wenig aus dem Einerlei heraus, weil zwei Redakteure seit Monaten eine Story über ALDI und Al-brechts vorbereitet und mühsam im Umfeld der Familie recherchiert hatten. Sie kamen mit Dr. Karl Albrecht in Kontakt, dem Sohn des gleichnamigen ALDI-Patriarchen. Er verriet, dass er an einer Biografie seines Vaters nebst Firmenchronik arbeite, die Arbeit »eventuell« sogar veröffentlicht werden könnte. Das allerdings wäre eine Sensation, und sie wäre zu begrüßen.
Denn Albrechts Aufstieg aus kleinsten Anfängen zum Riesendiscounter, das ist nicht nur Wirtschaftsgeschichte, sondern auch Lokalgeschichte in Essen und Kulturgeschichte der Nachkriegsrepublik. Bei aller Sympathie für die Zurückhaltung der Brüder in diesen geschwätzigen Zeiten – ein Unternehmen, das die Gesellschaft derart mitgeprägt hat und so vielen Menschen täglich so nahe kommt, sollte seinerseits nicht ewig so unnahbar sein.
Wie wenig ALDI da bietet, zeigt ein Blick ins Internet. Bei ALDI Nord steht zur Geschichte des Unternehmens: nichts. Und bei ALDI Süd liest man unter »Historie« nur: »1913: Grün-dung des Familienunternehmens ALDI in Essen –1960: Gründung der beiden rechtlich eigenständigen Unternehmensgruppen ALDI SÜD und ALDI Nord«. Unübertreffbar mickrig und nicht einmal ganz korrekt. Denn was da 1913 gegründet wurde, war keineswegs ALDI, weder dem Namen nach noch in der Substanz.
Gründer Karl Albrecht, 1885 geboren, war Bäcker. Der schönen, aber fadenscheinigen Legende, dass er vorher Bergmann mit Staublunge gewesen sei, hat sein Enkel jetzt ge-genüber dem Spiegel endlich widersprochen. Bäckergeselle Albrecht also eröffnet 1913 einen Brothandel auf der Hauptstraße des heranwachsenden Bergbau-Kaffs Schonnebeck (1929 nach Essen eingemeindet). Dann übernimmt er auf derselben Straße das »Kaufhaus« von F.W. Judt – ein Kolonialwarenladen. Ehefrau Anna arbeitet mit. Als der Gründer 1943 stirbt, sind die Söhne Karl und Theo im Krieg. Beide haben eine kaufmännische Lehre gemacht. 1946 übernehmen sie die Regie im elterlichen Laden und ziehen neue Saiten auf.
1953 gibt es schon über 30 Albrecht-Geschäfte im Ruhrgebiet, und in Schonnebeck eine neue Zentrale des »Lebensmittelfilialbetriebs«. 1953 gibt Karl Albrecht zum ersten und letzten Mal öffentlich Einblicke in die Erfolgsgeschichte: Erst fehlt beim Aufbau des Filialnetzes nur Geld für das angestrebte breite Sortiment. Um Kunden trotz schmaler Auswahl zu binden, »verkauften wir unsere Ware entschieden billiger«. Bedienung gibt es zwar noch, aber nur als »Massenabfertigung«, wie Albrecht einräumt. Und: »Unsere ganze Werbung liegt im billigen Preis«. Voilà: das ALDI-Prinzip. Eine Erklärung, warum und wie gerade diese beiden Männer diesen schlichten Verkaufsgrundsatz zu solch bahnbrechendem Erfolg führen, ist das aber noch nicht. Genau darüber möchte man gern mehr erfahren.
1953 sind die Albrechts noch Teil der überschaubaren Schonnebecker Arbeiterwelt. Aller-dings erinnern sich Weggefährten an erste Zeichen von Distanz: Theo siezt plötzlich ehemalige Schulkameraden – das fällt auf in Schonnebeck. Mitte der 50er Jahre dann ziehen die Albrecht-Brüder und ihre Mutter fort, ohne aufstiegstypische Zwischenstationen gleich dahin, wo es in Essen am teuersten ist, in die Bredeneyer Welt abgeschirmter Villen. Kurz darauf wechselt die Firmenzentrale in die Essener Innenstadt. Damit sind die Albrechts aus Schonnebeck verschwunden – und eigentlich sind sie nirgends richtig wieder aufgetaucht.
1961 folgt die Trennung in Karls Süd-Reich und Theos Nord-Reich. Über die Gründe wird bis heute nur gemutmaßt. Gut möglich, dass die beiden Brüder vor allem auch Distanz zueinander brauchen. Ein Jahr später eröffnet der erste »ALDI«-Markt, das Akronym von Albrecht Discount. Hinter dem Kürzel verschwinden die Gründer erst recht. Bald gehen nur ältere Essener noch »nach ’en Albrecht«. Dass Karl seine Hauptverwaltung nach Mülheim an der Ruhr verlegt, Theo die seine von Essen nach Herten und wieder nach Essen-Kray, nimmt selbst an der Ruhr kaum jemand wahr; ebenso wenig das Leben der Albrechts in ihren Villen oder sonst wo. Sie inszenieren ihren Reichtum nicht, werden nie Teil der Schickeria. Ihre Läden sind für die Klatschpresse sowieso uninteressant.
1971 wird Theo Albrecht entführt und gegen ein Rekord-Lösegeld freigelassen. Das wirft plötzlich ein grelles Schlaglicht auf den Reichtum der Brüder. Doch aus diesem Licht zieht Theo sich sofort wieder zurück. Gern wird behauptet, die Öffentlichkeitsscheu der Brüder gehe auf diese Entführung zurück, dabei waren sie lange vorher abgetaucht. Aber zweifellos hat das Verbrechen Theo Albrecht traumatisiert. Bald nach seinem Tod las man über den Verkauf seines S-Klasse-Mercedes: Die Inneneinrichtung ist so dürftig wie in einem Taxi. Aber Unsummen hat Albrecht ausgegeben, um sein Auto schussfest zu panzern und giftgassicher zu verschließen. Klingt skurril, zeugt aber von panischer Angst.
Das Interesse an den Albrechts wächst durch die Entführung und das weltweite Wachstum der beiden Discounter. Mehr noch dadurch, dass seit den 80er Jahren die öden ALDI-Läden anders wahrgenommen werden: Plötzlich wird es schick, ALDI-Champagner zu kaufen. Obendrein beginnen Vermögens-Schnüffler vom »Forbes«-Magazin, die Albrechts all-jährlich als reichste Deutsche anzuprangern. Das macht neugierig. Aber es ist zu spät. Die lang eingeübte Abschottung wird nie mehr durchbrochen; auch nicht, als Karl und Theo Albrecht in das Alter kommen, da Männer milder werden und gern von früher erzählen.
Dass diese Abschottung mitunter groteske Züge annahm, mag tatsächlich mit Theos Ängsten zu tun haben. Mitfühlende Loyalität mag erklären, dass sie fast alle eisern mitschwiegen: sein eigentlich weniger menschenscheuer Bruder, die Familie, Angestellte, Nachbarn, Freunde. Ja, selbst Feinde, die es sicher gibt, halten sich an die Omertà. Nicht mal richtig böse Gerüchte gibt es, wenn man von Anekdoten über die notorische Sparsamkeit der Brüder absieht.
Über 50 Jahre ist es her, dass die Albrechts aus Schonnebeck verschwunden, man möchte sagen: geflüchtet sind. Natürlich gibt es ALDI dort, sogar im ehemaligen Kolonialgeschäft des Gründers. Man kann sich ausmalen, wie amerikanische Albrechts diesen Ort zur Weihestätte machen würden. Aber: nicht der leiseste Hinweis. Es gibt noch Menschen, die sich erinnern. Auch bei Ihnen spürt man Loyalität, Zuneigung, Respekt und ein bisschen Stolz. Aber auch Ratlosigkeit und Enttäuschung, dass ihnen die ehemaligen Nachbarn so abrupt so vollständig den Rücken gekehrt haben. »Einmal, vor Jahren, hab ich den Karl Albrecht auf dem Friedhof gesehen«, sagt einer, »am Grab der Eltern«. Es klingt, als hätte er einen Geist erblickt.