Das Wort von der »Zerstörten« bzw. der »Verlorenen Generation«, das von Zeit zu Zeit immer mal wieder passt und, wer weiß, demnächst auf die Jugend in der Ukraine und in Russland angewendet werden muss, prägten parallel Ernest Hemingway und Erich Maria Remarque. 1929 erschien »Im Westen nichts Neues« und wurde ein vielfach übersetzter, durchschlagender Welterfolg, wie man so sagt, auch wenn einem das bombige Adjektiv in diesem Zusammenhang allzu treffend erscheint.
Der Propaganda- und Krawall-Minister Joseph Goebbels mit seinem abwehrenden Instinkt gegen fatalistische Tendenzen und den Totentanzgeruch organisierte ‚spontane’ Aktionen in den Kinos gegen die Verfilmung von 1930 und ließ Remarques »defätistischen« Roman ins Feuer zu den anderen zu verbrennenden Büchern werfen.
Remarque schreibt aus der Perspektive des Ich-Erzählers Paul Bäumer. Der Gymnasiast meldet sich 1917 zusammen mit Klassenkameraden, darunter sein Freund Stanislaus ‚Kat’ (Albrecht Schuch) freiwillig und mit lachendem Gesicht, obwohl da doch längst die Euphorie und der Glaube an einen schnellen Sieg verflogen sind. Wir sollen unmittelbar aus den Augen des Rekruten (Felix Kammerer) das Grauen der Front, den Stellungskrieg in den Schützengräben, die Panik, den Morast, den schmutzigen Tod erleben.
Aber die Kamera als verlängertes Auge Bäumers macht sich selbstständig, hebt ab, fliegt in die Höhe, spielt sich unter Regie von Edward Berger auf. Der will bombastisches Kino machen, wie das Genre es durchexerziert, nicht erst von Steven Spielbergs »Soldat Ryan« bis Christopher Nolans »Dunkirk«. Stanley Kubricks »Wege des Ruhms«, die ebenfalls zwischen 1914 bis 1918 in den Irrsinn gehen, und später dann »Full Metal Jacket« über den Horror im amerikanischen Vietnamkrieg wären ohne Remarques Vorbild kaum so vorstellbar gewesen. Also gibt es graufarbige Schlachtengemälde mit Leichenfeldern, Panzerkolonnen, angreifenden Flugzeugen, dem allgemeinen Chaos und – immer wieder hinein montiert – Bildmotive, die den französischen Begriff für Stillleben »nature morte« anschaulich machen. Der allgegenwärtige Tod.
Paul Bäumer gerät dabei aus dem Blick. Er und die Anderen verwandeln sich unter den Schrecken von Lärm, Feuer und, Blut, wie Remarque es nennt, »Menschentiere«, die »auf eine sonderbare und schwermütige Weise verroht« sind. Die Kameradschaft von Paul und den anderen Jugendlichen erscheint bei Remarque als das einzig Positive, wobei auch dieses Gemeinschaftliche wohl zu hinterfragen wäre. Den Schritt geht der Autor nicht.
Allein, was wir als Zuschauer im Gedächtnis bewahren, ist das Entsetzen in den blauen Augen der reinen Unschuldsmiene von Felix Kammerer, die zusehends von Dreck und Schlamm verkrustet. Nichts ist mehr, wie es war.
Die Gegenwelt, die das Buch so nicht aufruft, ist die der Hohen Politik und Diplomatie. Edward Berger führt in den Wald von Compiègne, wo in einem Eisenbahn-Salonwagen der deutsche Matthias Erzberger (Daniel Brühl) als Bevollmächtigter der Republik und Reichsregierung und die Franzosen und ihre Alliierten über den Waffenstillstand verhandeln, der Voraussetzung sein wird für den Vertrag von Versailles. Hier entsteht die von Rechten, Nazis und Nationalisten als Kampfbegriff benutzte Legende vom »Dolchstoß«, mit dem das im Feld unbesiegte deutsche Heer hinterrücks gemeuchelt und um seinen Sieg betrogen worden sei. Remarque wählt für seinen »Bericht« eine einfache, nüchterne Sprache, die manchmal ein resignativer Ton, Melancholie und Pathos durchweht, als hätte er auch das Soldatenlied »Lili Marleen« geschrieben. Edward Bergers Zweieinhalbstunden-Film wählt eine ganz andere Bild-Sprache: üppig, breit, kalorienreich, gesättigt, als bedürfe es solches martialischen Naturalismus des Schlimmer und immer Schlimmer, des Mehr und noch Mehr, der nur zur Abstumpfung bis zum Überdruss führt. Dies verursacht eine andere, vulgär-spektakuläre Abstumpfung, als die der Soldaten in ihrer Lebens- und Todesmüdigkeit. Paul Bäumer fällt als letzter seiner Gruppe.
»Im Westen nichts Neues«, Regie: Edward Berger, D / GB / USA 2022, 148 Min., seit 29. September in ausgewählten Kinos, ab 28. Oktober bei Netflix