TEXT: ANDREAS WILINK
Tut Kindermund Wahrheit kund ? Wie will man wissen, was der Fantasie, was der Realität, was emotionaler Unordnung, was dem Fehlen von Einsicht in die Konsequenzen einer Anschuldigung entsprungen ist? Der Titel von Thomas Vinterbergs Film lässt nicht Gutes ahnen. Es geht – wie in seinem filmischen Familien-»Fest«, das in der Dramatisierung auf zahlreichen Bühnen nachgespielt wurde – um Kindesmissbrauch. Der Beschuldigte ist nicht der Vater der Opfer-Kinder, sondern der beste Freund der Familie. Lucas (Mads Mikkelsen), geschieden, ehemals Lehrer, jetzt Aushilfe im Kindergarten, hat ein Vertrauensverhältnis zur achtjährigen Klara, der Tochter von Theo und Agnes. Klara mag ihn, so sehr, dass sie enttäuscht reagiert, als er ihre Zuneigung (ein gebasteltes Herz, ein Kuss auf den Mund) sanft, aber bestimmt zurückweist. Bei ihrem älteren Bruder hatte Klara etwas von »Schwänzen« aufgeschnappt und dies, zusammen mit der Kränkung, veranlasst sie, eine Geschichte zu erfinden, die Lucas des sexuellen Übergriffs verdächtig erscheinen lässt. Alle reagieren sofort, Kindergartenleitung, Eltern, geschiedene Ehefrau, Polizei. Lucas steht allein, bis auf seinen Sohn Marcus und dessen Patenonkel. Wie sich verteildigen? Wie seine Unschuld beweisen? Es ändert nichts, ob Klara ihre Behauptung nun bekräftigt oder zurücknimmt – da heißt es nur, sie würde sich schämen, den Vorgang verdrängen und aus ihrer Erinnerung bannen wollen.
Ein Verhängnis. Der Film beginnt damit, dass eine Gruppe Männer, darunter Lucas, in den kalten November-See springen; später gehen sie gemeinsam auf die Jagd mit anschließendem Trinkgelage: Sportsfreunde, Männerrituale. Die sich umkehren werden. Die Gewalt richtet sich gegen einen von ihnen. Und der wird aus der überschaubaren dörflichen Gemeinschaft, wo jeder jeden kennt, ausgestoßen. Man behandelt bald Lucas wie einen Aussätzigen, er wird geschlagen, sein Haus attackiert, sein Hund getötet. Auch nach dem juristischen Freispruch, nachdem die Aussagen der Kinder (mittlerweile gilt nicht nur Klara als potenzielles Opfer) sich als nachweislich falsch erweisen. Aber der Vorwurf steht im Raum: Rufmord, der tödlich enden könnte. Vinterberg bringt in seinem intensiv aufrührenden, modellhaft konstruierten Film, der einen körperlich anspringt, den Fall in Zusammenhang mit dem christlichen Menschenbild. In der Bibel fragte Pilatus im Angesicht des gefolterten Jesus: »Quid est veritas?«. Nicht zufällig weihnachtet es. Am Heiligabend geht Lucas ostentativ in die Kirche, wo der Kinderchor singt und die Familien sich versammeln. Er konfrontiert Theo mit sich. Sieht ihm in die Augen. Theo wird ihm glauben und ihn um Verzeihung bitten. Aber die Jagd auf Lucas ist nicht vorüber.
»Die Jagd«; Regie: Thomas Vinterberg; Darsteller: Mads Mikkelsen, Thomas Bo Larsson, Susse Wold, Alexandra Rapaport, Annika Wedderkopp, Lasse Vogelstrom; Dänemark/Schweden 2012; 111 Min.; Start: 28. März 2013.