TEXT ANDREAS WILINK
Ein Wort bringt es auf den Punkt: »Baritonistin«. Die Berufsbezeichnung für Lucia Lucas – und mehr als das. »Das sagt alles«, findet sie selbst. Man kann an einer Hand abzählen, wie viele Sängerinnen dieses Fach für sich in Anspruch nehmen, und, umgekehrt etwa, wie viele männliche »Mezzos« es gibt.
Jemand lebt im verkehrten Körper und möchte auch biologisch sein bzw. werden, was dem Inneren entspricht. Lucia Lucas, engagiert an den Wuppertaler Bühnen und dort zuletzt in »Hoffmanns Erzählungen« von Jacques Offenbach zu erleben, hat diese existenziell Erfahrung gemacht – und allem Anschein nach bravourös gemeistert. Als wir uns in Barmen treffen, weisen bei ihr nicht die Jeans, die dicke blaue Jacke, der wollige Pullover, aber das fein geschminkte Gesicht, die zusammengebundenen langen welligen Haare und die zweifarbig eleganten flachen Schuhe klar das Geschlecht zu. Lucia Lucas präsentiert ihre Weiblichkeit nicht offensiv, was vorstellbar wäre, wo sie doch mühevoll und nach äußeren wie inneren Kämpfen hergestellt wurde und darum kostbarer ist. Sie wirkt selbstverständlich, ohne viel Wesen davon zu machen. Darüber reden lässt sich dennoch, stundenlang. Auf Deutsch, das sie »durch Feuer und Wasser gehend« gelernt habe.
Lucia Lucas ist Amerikanerin. Das Einzelkind Lucas Harbour wuchs auf im kalifornischen Sacramento. Meistens mit ihrer Mutter, ein paar Jahre während der Schulzeit beim Vater, zu dem der Kontakt abgebrochen ist. Beide Eltern sind Ingenieure. Bereits mit fünf Jahren bemerkte sie die Differenz, weniger bewusst als intuitiv. Welches Spielzeug wählt ein Kind für sich, welche Kleider werden bevorzugt? Keine Entscheidung, mehr ein Empfinden. »Mit Brüdern und Schwestern wäre es leichter gewesen«, denkt sie. In der Schulklasse saß Lucas gewissermaßen zwischen den Stühlen: hüben die Boys, drüben die Girls. Er wusste, wohin er wollte – musste jedoch auf der anderen Seite sein. Das war noch vor der Pubertät. Die Mutter entdeckte einmal den Jungen – geschminkt, mit zehn. »Es war nicht erlaubt.« Achtziger Jahre, die Reagan-Ära, auch der allmähliche Beginn von Aids. »Wenn Du schwul bist, wirst Du es schwer haben«, sorgt sich die Mutter. Denn was hatte man schon für Kategorien parat, wenn ein Junge sich als Mädchen ›verkleidet‹. »Heute haben wir andere Rollenmodelle«, sagt Lucas, raus aus der vorgefertigten »Box« und aus Schablonen.
Mit beginnender Geschlechtsreife, wenn sich Gesicht und Körper ausprägen, so erzählt sie, sei sie überzeugt gewesen, dass sich der Körper weiblich entwickeln würde. Es musste einfach so sein. »Ich war mir so sicher über meine Identität.« Als es anders kam und sie sich Tag um Tag aus der neutralen Mitte in die falsche Richtung bewegte, empfand sie es als »Betrug«.
Man möchte unermüdlich Carolin Emcke zitieren, die in ihrem neuen Buch »Gegen den Hass« gegen »sakralisierte Normalität« und die Behauptung und verordnete Legitimität einer fix und fertigen »Ursprünglichkeit« argumentiert und der kurzschlüssig ideologischen Ausgrenzung ihr »Lob des Unreinen« und ein offenes Konzept entgegenhält – auch bei der Formierung und Formatierung des Geschlechts.
Lucia Lucas gesteht: »Ich hatte nie Angst.« Nicht unwesentlich half ihr die Begegnung mit ihrem Lehrer für das Instrument Horn. Der war schwul, lebte mit einem Mann und dem adoptierten Kind aus der früheren heterosexuellen Beziehung des Anderen. Für sie das Vorbild eines partnerschaftlichen Paars. Lucia, damals noch Lucas, machte parallel zur Horn- und Stimm-Ausbildung noch Schwimm-Training: dreimalig intensive Einübungen in Disziplin.
Die Kunst-Community, überlegte sie damals, würde ihr Ruhe und Sicherheit geben. Ein Impuls war, eine Karriere so groß als möglich zu machen, die manches erlauben würde, auch finanziell für die notwendige Behandlung und Verwandlung. Zu ihrer Fantasie gehörte auch ein radikaler Bruch: »zu verschwinden, neu anzufangen ohne Vorgeschichte, wie ein Stealth-Flugzeug, das ein Radar kaum zu erfassen vermag«.
Bis 2005 lebte sie in Kalifornien, lernte an der Universität auch Ehefrau Ariana kennen, mit der sie heute noch, nach 13 Jahren, zusammen ist, und machte auf dem Coming-Out-Weg »der kleinen Korrekturen« Fortschritte, aber noch nicht in letzter Konsequenz. Die Befreiung erfolgte in Chicago und dann in Deutschland, wohin sie zunächst ein Opern-Stipendium brachte – nach Berlin.
Mittlerweile sind die medizinischen Maßnahmen abgeschlossen, privat bezahlte Gesichts-Operationen, Körper-Korrekturen, Hormonbehandlung. Wobei die Unterschiede im amerikanischen (und nochmals anders vermutlich unter der künftigen Trump-Regierung) und im deutschen System eine Geschichte für sich sind, ebenso wie die Prozeduren zur Änderung des Namens (der schwierigste Punkt) und der Identität, Atteste, Anträge, die Neuausstellung von Dokumenten wie Pass und Führerschein, Klassifizierungen der Transsexualität mit teils – historisch bedingt – brutalen Reglements.
Wo eigentlich liegt das Problem mit dem Uneindeutigen? Was rechtfertigt, das »Seltene« (Emcke) zu diskriminieren, das gängige Codes von männlich und weiblich und binäre Kategorien durchkreuzt, sich ihnen entzieht, sie spielerisch auflöst, rebellisch bekämpft oder beiseite räumt, sich assimiliert oder transzendiert. Es gibt so viele Programme. Auch für die Transition, die »unüberschaubare innere und äußere Schwellen« (der kalifornische Wissenschaftler Julian Carter) legt, Mut verlangt, Tabubrüche herausfordert, Hürden errichtet – medizinische, psychiatrische, juristische, behördliche, finanzielle, emotionale.
Die Gefahr besteht, sich zwangsläufig selbst zum Programm zu machen. Ohnehin muss sich der Außenstehende vorsehen, das Transgender-Thema nicht zu literarisieren, zumal wo sich der künstlerische Kontext aufdrängt. Aber mit Rilke kommt man hier nicht weit, bei dem es in der Neunten Duineser Elegie heißt: »Was, wenn Verwandlung nicht, ist dein drängender Auftrag.« Transition ist kein artifizielles Projekt, höchstens in zweiter Linie, wenn das Androgyne und Ambivalente (auf der Bühne) Faszination ausübt und ins Vexierspiel changiert.
In den Wuppertaler »Hoffmanns Erzählungen« ist Lucia Lucas in der Stella-Geschichte als Lindorf gepanzert unter einer Haarspray-Frisur, bewegt sich als Coppelius im Olympia-Akt wie eine Kreuzung aus Nosferatu und Fu Manchu auf Kothurnen, um als Dr. Miracle eine böse Bourgeoise, tückisch und vergiftet wie aus einem Roman von Julien Green, Schaden anzurichten. Die vier Regisseure dieses Offenbach definieren also die männlichen Rollen ins Weibliche. Ein Spiel! Kein Problem. Rollen-Material, eine Deutungs-Sache. »Barrie Kosky macht so was dauernd«, lacht Lucia Lucas. Heikler wird es, wenn es dich
tangiert, dir auf die Pelle rückt, wenn es ans Eingemachte geht: »to close to home«.
Für London erarbeitet sie das Solo-Projekt »The High Seas of Dysphoria«, mit Teilen daraus hat sie dort schon in Clubs gastiert, beginnend mit Wagners »Holländer«-Arie »Die Frist ist um«. Sie zeigt in der Show beide Seiten: Mann und Frau, Frack und Robe, variabel wie einst Marlene in ihrer zwiegestaltig erotischen Provokation.
Es wäre indes furchtbar, würde Lucia Lucas in ihrem dramatischen baritonalen (Männer-)Fach beständig Gender-Theorie mitschleppen. Zu 90 Prozent, sagt sie, stehe sie als Mann auf der Bühne – ganz normal und übrigens ohne Schaden für die Stimmbänder nach den Eingriffen. »Rollen zu spielen, habe ich gelernt, Verwandlung ist mein Beruf, es muss nicht immer die Stanislawski-Methode sein.« Will sagen: psychologische Ich-Ausforschung. Bühnen-Identität und persönliche Lebensform müssen schließlich weder übereinstimmen noch im Dissens liegen für ein gutes künstlerisches Ergebnis. Aber es kann auch produktiv sein, mit Lucia Lucas’ Extra-Kapital etwas anzufangen. Gewiss ist die Vorstellung, mit ihr Mozarts Giovanni, Verdis Jago oder Gounods Mephisto zu erleben, reizvoll, wenn damit die Figur eine weitere Variante, Drehung und Perspektive erhält. Wenn das Spiel sich multipliziert, so, als stehe Marilyn Monroe fünffach im Boudoir-Spiegel in »Wie angelt man sich einen Millionär?«.
Nicht jeder am Theater kommt damit klar. Eine Kollegin habe deutlich ihr Missbehagen ausgedrückt, ein Dirigent sich geweigert, sie als Frau anzusprechen; bei einem Gesangswettbewerb wurde ihr nahe gelegt, doch lieber als Mann zu kommen, da hätte sie größere Chancen. Sie hat es nicht getan und nennt diese Forderung ihre schlimmste Erfahrung. In Xavier Dolans grandiosem Film »Laurence Anyways« sieht man, wie für Laurence Alia als Transgender alle sozialen Brücken einbrechen – Elternhaus, Arbeitsplatz, Liebesbeziehung. Ihre Gender-Erfahrungen teilt Lucia Lucas in ihrem Blog »An Engineer’s Guide to Opera« mit.
Lucia Lucas gehörte seit der Spielzeit 2011/12 dem Ensemble des Badischen Staatstheaters Karlsruhe an und fand in Intendant Peter Spuhler einen Förderer bei der Entscheidung, sich öffentlich in eine Frau zu verwandeln. Noch vor zwei Jahren präsentierte das Theater im Spielzeitheft »Lucia Lucas (vormals Lucas Harbour)« als Mann, während sich nun eine ihrer selbst gewisse Frau darstellt. Und doch, trotz aller Unterstützung, 18 Monate habe es gedauert, bis sie ihre Künstler-Garderobe wechseln konnte. Das Gefühl, es könne vorteilhaft sein, irgendwo ganz neu anzukommen, ohne dass der Ort von der eigenen Vergangenheit weiß, ist ihr nicht fremd.
Lucia Lucs geht beharrlich vorwärts. Pragmatisch. Lösungsorientiert. Mit enormem Selbstvertrauen. Sie wusste für sich: »Wenn es zu schwer ist, etwas zu halten, muss ich es lassen. Wenn man keinen Plan B im Kopf hat, macht man seinen Plan A besser.« Gleichwohl musste sie Verluste einkalkulieren. Ihre Bio-Politik der kleinen Schritte hätte sie stürzen lassen können. Ablehnung ist ihr weitgehend erspart geblieben. Und sie weiß: »Ich bin stark. Ich schütze mich selbst. Durch die Bühne habe ich diese Power gefunden.« Die Regisseurin Inga Levant habe ihr gesagt, sie sei »ein Bulldozer«. Fügen wir hinzu, dann doch wohl in der Limousinen-Ausführung.
Die nächste Premiere mit Lucia Lucas (als Monterone) ist Verdis »Rigoletto« am 9. April an den Wuppertaler Bühnen.