Der Vorhang auf – und alle Fragen offen. Es sind diejenigen Wochen, da die Kinder- und Familienstücke über die Bühne gehen und das Feiertagsprogramm als Alternative zum heimischen Christbaum kunstvolle Glanzlichter aufsteckt. Aber was täglich an Corona-Zahlen und -Neuregelungen verbreitet wird, ist alles andere als das Verkünden großer Freude. »Die Courage lernt nicht«, lautet die bittere Erkenntnis in Brechts Chronik aus dem Dreißigjährigen Krieg. Konnten die Theater aus der Pandemie lernen – und welche Langzeitfolgen kommen womöglich auf sie zu?
Wilfried Schulz, Generalintendant des Düsseldorfer Schauspielhaues, erkennt – er befinde sich momentan mit Stadt und Land im Gespräch – »ein hohes Problembewusstsein« dafür, was es bedeuten würde, die finanziellen Mittel zu beschränken. Er sehe »die gemeinsame Sorge, nicht leichtfertig die Kultur zur Disposition zu stellen und bluten zu lassen«. Seine in Erfahrung gewachsene »Gelassenheit« fürchtet nicht »den totalen Paradigmenwechsel«, vertrauend auf das Theater und »seine sensorische Wirkung in die Gesellschaft hinein«.
Seit die Abstandsregel bei der Platzvergabe aufgehoben wurde, wächst das Unbehagen, in einem ausverkauften Theater dicht an dicht zu sitzen, während das Tragen einer Schutzmaske eine Weile nur anempfohlen wurde, mittlerweile wieder zur Pflicht erhoben ist. Ob Kontrollen, Hygienekonzepte und Belüftungsanlagen dieses Bauchgefühl entkräften? Schulz jedenfalls attestiert seinem Publikum »Achtsamkeit« und den »dezidierten« Wunsch nach strenger Durchführung der Schutzbestimmungen. Alle Plätze dürfen (noch) verkauft werden, wobei das Düsseldorfer Schauspielhaus etwa im Januar ins Schachbrett-Verfahren zurückkehrt.
Welche Auswirkungen hat der verordnete Schwund oder der aus individuellen Motiven vermiedene Besuch von Aufführungen durch fehlende Einnahmen bereits jetzt auf die Etats der Häuser? Und welche Konsequenzen sind von der öffentlichen Hand zu erwarten – den Kommunen, in NRW selten dem Land –, da Milliarden zur Krisenbewältigung zirkulieren. Auch wenn Olaf Scholz laut Steuerschätzung über Schlaraffenland-artigen Überfluss verfügen zu können scheint, was kommt für die Kunst dabei heraus?
Sehnsucht nach dem großen Theatererlebnis
Müssten die Theater nicht spielplanbezogen die rasant steigende Infektionskurve kontern: nicht gemeint als Aufgebot themenbezogener Stücke und Stoffe, sondern indem sie Volumen reduzieren, um sich variabler zu halten und kreativ dem Unberechenbaren weniger Angriffsfläche zu bieten? Weniger zehn-, zwölfköpfige Ensembles zum Drama auflaufen lassen (schon deshalb, um eventuelle Krankheitsausfälle zu minimieren), mehr intimere Projekte, leichter disponierbare Produktionen, geringerer bühnentechnischer Aufwand, weniger Premieren-Output. Es hat sich vieles aufgestaut in den Schließ-Perioden, wurde bis zu Ende geprobt und sollte partout raus, als stünde der Winter-Sale an – so seien »Belastungen, Reibungsverluste, Stress« entstanden, sagt Vasco Boenisch, Chefdramaturg am Schauspielhaus Bochum. Er gibt aber auch zu bedenken: »Der Betrieb und seine Produktionsweisen sind langsamer, als man außerhalb denkt«. Für die Saison 2022/23 überlege man indes, performative Formate und weitere Orte zu entwickeln, mit denen kurzfristig zu reagieren sei.
Wilfried Schulz spricht von der »Quadratur des Kreises«, sieht »ambivalente« Motive und Parameter wirken und formuliert seine »bewusste Entscheidung, die Sehnsucht des Publikums nach dem großen Theatererlebnis zu erfüllen«. Nach dem unalltäglichen Kunst-Erleben, den etwa der neue »Macbeth« erwarten lässt. Und Schulz führt seine Fürsorgepflicht an, in bestimmten Phasen nicht pausiert zu haben (»Dann drehen alle endgültig durch«), um der mentalen Gesundheit und auch finanziellen Sicherung seiner Leute willen.
Selten sammelte sich unser Grundempfinden von Stillstand und Nicht-Wissen-Wie in einem theatralen Moment wie im Bochumer Saisonauftakt mit Dantes »Das neue Leben« und seinem stummen Zwischenspiel. Auf leerer Bühne sind neun sich verengende weiße Kreise eingezeichnet. In einer ausholenden Aktion streicht ein magischer Lichtkreisel über die Kreise hinweg. Zeichenhaft wird eine mythische Kraft und Schönheit spürbar, die gerade das Unaufhaltsame ihrer Gewalt vor Augen führt. Bewusst habe man thematisch »nicht aufdringlich« die Lebenssituation spiegeln wollen, sagt Boenisch, auch wenn »Ödipus, Herrscher« und »Das neue Leben« offenbar eine »starke Gefühlsbasis« der Menschen treffen würden.
Das Schauspiel Köln kann noch keine verlässlichen Zahlen zur finanziellen Einbuße liefern. Im zurückliegenden September und Oktober war eine Platzkapazität von 60 Prozent möglich; seit November steht der komplette Saal-Plan im Angebot. Stefan Bachmanns Theater wird sich für das NRW Stärkungspaket »Kunst & Kultur« bewerben, »in der Hoffnung, etwaige Mindereinnahmen darüber auffangen zu können«. Inhaltlich betrachtet, habe man sich dem »theaternetzwerk.digital« angeschlossen, dessen Gedanke es ist, die Digitalität auf deutschen Bühnen auch nach der Pandemie nicht verschwinden zu lassen. Vor diesem Hintergrund sei auch Luk Percevals »Oblomow revisited« entstanden. Vermehrt auf Monologe oder Ähnliches zu setzen, wie zu Hochzeiten des Pandemiegeschehens, »halten wir für nicht mehr notwendig angesichts detaillierter Hygienekonzepte«. Maßnahmen bei den stetig wachsenden Inzidenzzahlen hält man sich in Köln offen.
Wirtschaftsplanung in der Pandemie
In Düsseldorf liegt die Kapazität des Platzangebotes aktuell bei 60 bis 70 Prozent; besonders der November und Dezember seien extrem positiv nachgefragt, »fast wie in normalen Zeiten« (Schulz), zumal bei den Schulvorstellungen, wo der Gedanke, »den Kindern soziale Erlebnisse zu bieten«, bestimmend sei. In Bochum sieht die seit November statthafte Belegung im Großen Haus 50 und in den Kammerspielen 30 Prozent der Kapazität vor, davor lag sie noch darunter, konnte aber durch verbesserte Belüftungssysteme aufgestockt werden. Auch wenn einige Produktionen sehr gut nachgefragt seien, »pauschal lässt sich sagen, dass das Publikum uns nicht überrennt«, so Boenisch. Wegen Mindereinnahmen seit drei Spielzeiten (»Wir hatten seit Johan Simons’ Beginn nicht eine reguläre Spielzeit«) und der »erheblichen Kerbe in der Finanzplanung« sei dem Haus von der Stadt »vorausschauend und in hoher Wertschätzung und Identifikation mit dem Theater unter die Arme gegriffen« worden. Anhand eines Corona-bedingten Wirtschaftsplans wurde das Defizit für 2020/21 einmalig mit 1,8 Millionen Euro ausgeglichen. Nachdem der Sonderzuschuss nicht aufgezehrt wurde, darf er im gegenwärtigen Rechnungsjahr aufgebraucht werden. »Wir hoffen, plus minus Null bis zum nächsten Sommer herauszukommen« – so sich die Lage nicht dramatisch zuspitzt, wobei Boenisch auf weitere Probleme durch bis zu einem Drittel gestiegener Rohstoffpreise (etwa für Bühnenbildmaterial) und das strukturelle Defizit angesichts der Tariferhöhungen verweist. Schulz spricht im preisbedingten Kontext von der Notwendigkeit »organischer« Verkleinerung. »Wir haben im Wirtschaftsplan Mindereinnahmen aufgrund pandemiebedingter eingeschränkter Platzkapazitäten berücksichtigt und versuchen diese über den Sonderfonds des Bundes zu kompensieren.«
Die Theorie und Praxis von Luk Percevals inszeniertem Kölner Schauspiel-»Oblomow« mit dem Fernbleiben der Hauptdarstellerin von den Proben und ihrer Alternative, digital versierte putzige Heimvideos zu präsentieren, kann keine Lösung sein. Die berühmte stille Verweigerung von Herman Melvilles Schreiber Bartleby »I prefer not to« gilt nicht. Vielmehr der unbedingte Wille zu spielen, nicht um jeden Preis, sondern im Abwägen der verschiedensten Kosten.