TEXT: ALEXANDRA WACH
»Die verschiedenen Objekte des Universums mögen zeitweise konstant sein, aber ihre wechselseitigen Beziehungen sind ständigen Veränderungen unterworfen«, schrieb Alexander Calder 1932 in dem Text »Was sich bewegt – Über bewegliche Skulpturen«. Im Fall seiner frei schwebenden Objekte ging es dem 1898 in Pennsylvania geborenen US-Amerikaner darum, ihre »Bewegungen zu harmonisieren und so eine neue Schönheit zu ermöglichen«. Eine paradoxe Sinnlichkeit geht diesen »seltsamen Wesen, halb Materie, halb Leben«, wie sie Sartre beschrieb, tatsächlich bis heute nicht ab, trotz der inflationären Vermarktung, die sie spätestens in der Nachkriegszeit als unverwechselbarer Wohnzimmerdekor oder Ohrschmuck einer Peggy Guggenheim erfahren haben.
Bereits 1931, fünf Jahre nach seiner Ankunft an der Seine, verbuchte der studierte Ingenieur und Miterfinder der kinetischen Kunst mit der ersten Einzelausstellung in der Pariser Galerie Percier einen beachtlichen Erfolg. Da zählte er neben seinem Landsmann Man Ray bereits zum festen Inventar der hauptstädtischen Bohème. Mit Arno Breker, dem späteren Lieblingsbildhauer von Hitler, teilte er sich ein Atelier. Picasso erbat noch vor der Eröffnung eine Privatführung beim Künstler persönlich. Dessen abstrakt biomorphe Werke fanden auf Anhieb Anklang bei den Sammlern und machten Calder zu einem der wenigen Avantgardisten, die vom Markt und den Zeitschriften hofiert wurden und nicht jahrelang auf den finanziellen Erfolg warten mussten.
ES KLANG!
Eine Neuerwerbung aus dieser Zeit brachte auch das Sammlungsteam des K20 in Bewegung. Denn bei der Überprüfung des 1936 von Calder geschaffenen Klang-Objekts stellte sich heraus, dass es sich um ein »Noise-Mobile« handelt – neben den Stabiles eine weitere Unterkategorie der berühmten Mobiles, die längst als buntes Spielzeug Einzug in jedes zweite Kinderzimmer gehalten haben. Dieses eher unbekannte Werk, eine an einem Draht hängende Kugel, die beim Pendeln einen Klang erzeugt, und der selten untersuchte akustische Aspekt in Calders Arbeit gaben für Museumsdirektorin Marion Ackermann und ihre Kuratorin Susanne Meyer-Büser den Ausschlag zur publikumswirksamen Werkschau.
Über 70 Werke Calders versammelt die Kunstsammlung NRW, die nebenbei auch aufschlussreiche Querverweise zu Calders avantgardistischen Zeitgenossen erlauben – Piet Mondrian etwa, Joan Miró oder Hans Arp. Ihre Beiträge, die eine frappierende geistige Verwandtschaft ausstrahlen, stammen aus dem Bestand der hauseigenen Sammlung. Ein in die Höhe gebauter Steg lädt zur Vogelbeobachtung der anderen Art ein: Von oben erscheinen die geometrisch spitz geformten Metallfedern der Hänge-Mobiles weniger bedrohlich als zum Spielen einladend. Die New Yorker Calder Foundation, die vom Künstler-Enkel Alexander S.C. Rower geleitet wird, lieh allein 25 Arbeiten aus. Der zeitliche Schwerpunkt liegt auf den 1930er und 1940er Jahren, als sich Calder, Sohn eines Bildhauers und einer Malerin, seiner produktivsten Phase erfreute, ausgelöst durch einen legendären Atelierbesuch bei Mondrian in der Pariser Rue de Départ. Das schwarz-weiß strukturierte Arbeitsrefugium des holländischen Konstruktivisten verpasste ihm mehr als nur einen Denkanstoß. Es stellte sein ganzes bisheriges Schaffen zur Disposition, weg von den populär figurativen Miniaturfiguren, die er in regelrechten Bühnenaufführungen samt musikalischer Untermalung zu akrobatischen Tänzen animierte. Die Zeit des Koffer-Zirkus war für immer passé.
MONDRIAN WAR DAGEGEN
In seiner Autobiografie gab Calder 30 Jahre später zu Protokoll: »Es war ein sehr aufregender Raum. Licht fiel von links und rechts herein und an der massiven Wand zwischen den Fenstern waren als experimentelle Schaustücke farbige Rechtecke aus Karton befestigt. Sogar der ursprünglich erdfarbene Fonograf der Marke Victrola war rot angestrichen. Ich machte Mondrian den Vorschlag, diese Rechtecke schwingen zu lassen, was vielleicht lustig sein könnte. Und er antwortete mit sehr ernsthafter Miene: ›Nein, das ist nicht nötig, meine Malerei ist schon sehr schnell.‹ Dieser eine Besuch versetzte mir einen Schock, der die Dinge ins Rollen brachte.«
Ein Schlüsselerlebnis, nach dem nichts mehr so war wie zuvor. Drei Wochen lang fertigte der Erleuchtete ausschließlich abstrakte Gemälde an, um danach mit ungegenständlichen Drahtkonstruktionen und beweglichen Skulpturen fortzufahren. Sein Freund Marcel Duchamp taufte sie begeistert auf den Namen »Mobile«, während Mondrian, in dessen Künstlergruppe »Abstraction-Création« Calder kurz zuvor aufgenommen worden war, seine Erfindung als Fehlentwicklung brandmarkte. Die mitunter motorisierten Skulpturen waren ihm schlicht nicht schnell genug. Der Gescholtene reagierte auf die Kritik so konstruktiv wie ungerührt mit einer Weiterentwicklung hin zum luftbewegten Mobile. Parallel dazu entstanden die von Hans Arp als »Stabile« bezeichneten unbeweglichen Konstruktionen aus Stahlblech. Das Farbspektrum blieb fortan trotz aller Meinungsverschiedenheiten als Hommage an Mondrian auf Rot, Blau, Gelb sowie Schwarz und Weiß reduziert.
1933 zog es Calder gemeinsam mit seiner Frau Louisa James zurück in die Heimat. Großformatige Wandfotografien zeigen sein mit allerlei Objekten, Werkzeugen und Drahtvorräten voll gestelltes Atelier in Roxbury (Connecticut). Der Blick durch das Fenster entführte in eine stille Wiesenlandschaft, in die er 1934 das erste Mobile für den Außenraum stellte. Die Rolle des Unruhestifters übernahm im Innern die Arbeit »The Gong«. Sartre schrieb über seine Eindrücke bei einem Besuch: »In seinem Atelier sah ich einen Klöppel und einen Gong, die freischwebend aufgehängt waren; beim geringsten Luftzug verfolgte der Klöppel den Gong, der sich um sich selbst drehte; er holte aus, schlug zu und traf ins Leere wie eine ungeschickte Hand, und dann, wenn man am wenigsten darauf gefasst war, traf er den Gong mit schrecklichem Lärm genau in der Mitte.«
FASZINATION BEWEGUNG
Entlang von »Small Sphere And Heavy Sphere«, einem Prototyp des hängenden Mobiles von 1932/33, lässt sich in der Klee-Halle schmunzelnd nachvollziehen, wie alles eher holprig begann: Zwei rote Kugeln an einer Stange müssen mit Schwung durch den Raum gewirbelt werden, damit das unberechenbare Kunstwerk sein Geheimnis preisgibt – ein Klanggebilde aus am Boden angestoßenen leeren Flaschen, scheppernden Blechdosen und Holzkisten, die den zufälligen Flugbahnen im Weg stehen und der offenen Form der Musik von Calders Komponistenfreunden John Cage und Edgar Varèse huldigen. Zum Beweis lassen sich Kostproben ihrer atonalen Kompositionen unter sogenannten »Klangduschen« nachhören – eine vergleichende Orchesteraufführung in Echtzeit, in die der Betrachter durch das Anstupsen der Kugel ursprünglich einbezogen werden sollte.
Weitere Klangskulpturen, von denen bisher knapp vier Dutzend in dem gewaltigen Œuvre identifiziert wurden, lassen sich auf Video in Aktion studieren. Leider dürfen die Besucher die fragilen Gebilde nicht selbst in Gang setzen. Dafür bieten Cage und Varèse ihre Dienste in stimulierender Endlosschleife an. Von den ersten Gehversuchen, darunter Drahtporträts und surrealistisches Holzspielzeug, reicht der Bogen des Frühwerks bis zu abstrakten Skulpturen, die mit Hilfe einer Kurbel oder eines Motors zum Laufen gebracht werden müssen. Parallel zu den schweigenden Maschinen erzählen an die Wand projizierte Experimentalfilmklassiker eines Man Ray oder Fernand Léger von der Faszination, die bewegliche Kunst seit den Dadaisten und Futuristen auslöste.
Nicht nur die Experimente seiner Freunde mit bewegten Gegenständen und Strukturen beeinflussten Calder in seiner Wahrnehmung. Die allgegenwärtige Beschleunigung des Alltags durch motorisierte Fortbewegungsmittel und rationalisierte Arbeitsabläufe in den Fabriken hinterließ ebenfalls nachhaltige Spuren in seinem modernistisch geprägten Ansatz, der längerfristig auf die Verwischung von Grenzen und scheinbar unverrückbaren Kategorien setzte. Die Chronologie setzt sich in der Grabbehalle mit unerwarteten Figurationen fort – zum Beispiel einer in alle Richtungen strebenden Schlange aus Bronze. An der Wand befestigt, möchte sie beides zugleich sein: schwebend und erdgebunden.
Das Schicksal der 2.300 Kilogramm schweren Außenskulptur »Le Tamanoir« (Ameisenbär) von 1963 steht dagegen fest. Das Stabile fand den Weg an den Rhein aus einem Park in Rotterdam. Statt auf dem Platz vor dem Museum stellt man es aus Angst vor Vandalismus lieber im Schutz der Museumsmauern aus, immerhin direkt vor dem großen Panoramafenster. Hier darf es einen Kontrapunkt zu dem farbenfrohen Defilee gut gelaunter Luftgeister setzen. Ein der Schwerkraft gänzlich ausgeliefertes schwarzes Ungetüm, das eifersüchtige Blicke zu den leichtgewichtigen Verwandten wirft. Eine Antwort des Vaters auf das gefällige Amüsierklischee, zu dem seine dünnhäutigen Drahtkinder im Laufe der Zeit geschrumpft sind? Calder interessierte nie der heilige Augenblick, sondern das, was passiert, wenn man länger hinschaut und sich als Teil der theatralischen Inszenierung zu empfinden beginnt. In dieser wunderbar einfühlsamen Schau ist man seinem Anspruch näher denn je.
Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, K20 Grabbeplat bis 12. Januar 2014. Tel.: 0211/8381 204. www.kunstsammlung.de