1609 hat Michelangelo Merisi, genannt Caravaggio nach seinem lombardischen Geburtsort, in Neapel durch Protektion von Kardinälen und Aristokraten Zuflucht gefunden, nachdem er in Rom unter Mordanklage steht und auf Begnadigung durch den Papst hoffen muss. Auf der Suche nach einem Vorbild, um eine David-und-Goliath-Szene zu malen, entdeckt er (Riccardo Scamarcio) sein eigenes entstelltes, malträtiertes, vom Leben gezeichnetes Antlitz für das abgeschlagene Haupt.
Derek Jarman ließ in seinem »Caravaggio« (1986) die Fiktion des Historischen gar nicht erst aufkommen, sondern den Realismus am Artifiziellen auflaufen und erkannte die »Außengestalt der alten Zeit« (Hegel) als problematisch für jede Vergangenheits-Rekonstruktion. Die gehe nicht ohne »Kollision« ab.
Anders Michele Placido. Er inszeniert gewissermaßen naiv aus dem Vollen, als erkenne die Möglichkeit des Erzählens ihre Unmöglichkeit nicht an, als würde die Behauptung des Leidenschaftlichen und Genialischen, geführt von der Hand Gottes, ein Nachstellen unbedingt rechtfertigen. Das gelingt am ehesten in der erdfarbenen Licht- und Schattengestaltung, dem berühmten Helldunkel (chiaroscuro), und vielen Überblendungen von Leben und Kunst. So wohnen wir den Schaffensprozessen und kruden Bildfindungen bei: für die Heiligen Matthäus und Paulus, die Magdalena, für den Tod der Maria, das Martyrium des Petrus, den sinnlichen Amor – ein echtes Früchtchen.
Es ist keine akademische Kunst, von deren Vertretern Caravaggio abgelehnt wird, weil sein Leben ein Skandal ist, wie aus der Gosse gezogen, voll Blut und Dreck. Der artiste maudit hat seinen Christus, Maria Magdalena, Heilige und Apostel unter Huren, Trinkern und Misfits gefunden. Seine irdischen Bilder rühmen den Himmel nicht, säen Zweifel an der ewigen Seligkeit und zeigen unser existentielles Geworfensein.
Er selbst ist ein Rebell wie Giordano Bruno, dem er hier im Kerker begegnet, wo der Astronom und Geisteskopf auf seine Hinrichtung als Ketzer wartet. Auch Caravaggio ist ein anderer Reformator der Kirche, ein Prometheus der Kunst und ein Dämon, so malt er sich in seine Bilder hinein, so malt er sich selbst als Schreckens-Medusenhaupt.
Der Fall Caravaggio wird von Michele Placido als Staatsaffäre gehandelt, die durch eine kirchengerichtliche Untersuchung des Heiligen Officium möglichst vermieden werden soll. Der inquisitorische stocksteife Schatten-Mann (Louis Garrel) begibt sich auf die Spur des Beschuldigten, addiert dessen Sünden, vor allem die des Fleisches, die ausschauen, als würde der Film Fellinis »Satyricon« und das Kino der siebziger Jahre adrett wiederauferstehen lassen.
Die emotionslose Autorität des »Schatten«-Technokraten befragt Verwandte des von Caravaggio Getöteten und Zeugen, die dem Maler Modell gestanden haben. Der Detektiv verhört im Palazzo Colonna auch die Marchesa Costanza (Isabelle Huppert), die den Künstler gefördert und ihm Obdach gegeben hatte. Er interviewt Kirchenfürsten wie Kardinal Del Monte, die seine Gemälde in ihren Palazzi bewahren; er steigt indirekt und intellektuell in Bordelle, Tavernen und Spielhöllen, in die Unterwelt der Gewalt, Gelage, Orgien und Waffengänge, und betrachtet das Elend der povera.
Dieser erzkatholische Ermittler ist der absolute Kontrast zu Caravaggios expressiver, aktionistischer, emotionaler Direktheit und seinen radikalen Umdeutungen der biblischen Geschichten, deren dramatische Personenregie das Ideal der Renaissance überwindet. Diese Kollision bildet den dramaturgischen Kniff des Films – bis zum (fiktionalen) blutigen Todesstich und zur Beseitigung des überragenden Malers. ****
»Der Schatten von Caravaggio«, Regie: Michele Placido, Italien 2023, 115 Min.,
Start: 12. Oktober