Ein Fan von Heinrich Heine: »Deutschland ein Wintermärchen« habe er schon als Kind gelesen, sagt Ai Weiwei. Und hebt die Passage am Zoll hervor, weil sie ihm besonders gefällt: Da suchen die Beamten im Gepäck des Autors nach verbotenen Büchern, und der weist sie darauf hin, dass sich die allergefährlichsten nicht im Koffer, sondern in seinem Kopf befänden. Was Ai Weiwei selbst angeht, so scheint er allerdings nicht viel für sich zu behalten. Alles muss raus, auch wenn es gefährlich wird. Durch die sozialen Medien fanden und finden die kritischen Gedanken des chinesischen Dissidenten den Weg um die Welt. Und in Ausstellungshäusern werden sie ausgebreitet – sehr laut und sehr deutlich.
60 Millionen Sonnenblumenkerne
An den Superlativen kommt man nun auch in Düsseldorf nicht vorbei. 60 Millionen Sonnenblumenkerne aus Porzellan, jeder einzeln von Hand geformt und bemalt. 164 Tonnen Stahlstangen in 142 zur Installation arrangierten Transportkisten. Über 2000 Kleidungsstücke, gewaschen, dann sortiert und klassifiziert an 40 Kleiderstangen… Die imposanten Zahlen, Maße, Gewichte und der enorme logistische Aufwand beim Transport und Aufbau kommen immer wieder zur Sprache, wenn es um Ai Weiweis Ausstellung in der Kunstsammlung NRW geht. Auch ohne dies haftet ihr etwas Spektakuläres an. Ist es doch der europaweit bisher größte Auftritt des Weltstars – Ai Weiwei, dessen Ruhm und Künstlertum nicht zu trennen sind vom politischen Aktivismus und der heftig betriebenen Selbstinszenierung.
»Wo ist die Revolution?«
Wer kennt es nicht, das Gesicht des bärtigen Chinesen? Es
wundert gar nicht, wenn sich der 61-Jährige nun auf dem Cover des Ausstellungskatalogs
selbst in Szene setzt und dabei ein berühmtes Foto von Joseph Beuys aufgreift –
wie einst der Kollege, so schreitet Ai Weiwei dynamisch auf die Kamera zu. »Die
Revolution sind wir« hieß es dazu in Schreibschrift bei Beuys, Ai Weiwei wandelt
ab und fragt unten rechts in der Ecke »Wo ist die Revolution?« Immer ein wenig
mysteriös sei Beuys’ Werk, aber, so betont Ai Weiwei, »was die soziale Plastik
und die soziale Bewegung betrifft, so stimme ich ganz und gar mit ihm überein.«
Sicher sind es nicht allein die Sympathien für Heine und die Übereinstimmungen mit Beuys, die den Künstler nun nach Düsseldorf locken. Vielmehr ist es sicher das vertraute Verhältnis zu der Museumsleiterin Susanne Gaensheimer. Als Kuratorin hatte sie Ai Weiwei 2013 für die Gestaltung des Deutschen Pavillons in Venedig gewonnen. In Düsseldorf nun macht sie in beiden Häusern der Kunstsammlung reichlich Platz für ihn frei – und beweist, dass viel mehr noch als die Zahlen der Eindruck überwältigt.
Zuerst im K20 und zumal, wenn man die Geschichten hinter den
Spektakelstücken erfährt. Die große Klee Halle füllt jenes zum gigantischen
Rechteck angehäufte Meer von hyperrealistischen »Sunflower Seeds« – geformt und
bemalt von 1600 Handwerkern im Zeitraum von mehr als zwei Jahren. Jeder für
sich eine eigene kleine Plastik – ein Individuum in der Masse. Brisanter wird
es gegenüber in der Grabbe Halle, wo Ai Weiweis Werk »Straight« komplett
ausgebreitet ist. Die 164 Tonnen Armierungseisen stammen aus dem Schutt von
Schulen, die beim Erdbeben 2008 in der chinesischen Provinz Sichuan
zusammenbrachen. Ai Weiwei hat die Stangen vor Ort eingesammelt, dann von Beton
befreien und geradebiegen lassen.
Zum Kunstwerk gehören Recherchen, die ergaben, dass Korruption
und Pfusch am Bau Mitschuld waren an der Katastrophe. Auch brachte der Künstler
die Namen von über 5.000 Schulkindern heraus, die unter den Trümmern ums Leben
kamen. Diese Info im Hinterkopf, erkennt man in den Transportkisten leicht
Särge, die zusammen mit den an die Wand tapezierten Kindernamen ein Ensemble
bilden, das an Pathos kaum zu übertreffen ist.
Neues Thema: die Flüchtlingskrise
Die beiden Schlüsselwerke sind erstmals vereint in dieser
Schau, die sich weitgehend auf Ai Weiweis politsche Arbeiten konzentriert. Mit
einzelnen Exponaten reicht sie weit zurück bis in die 1980er, präsentiert aber
überwiegend Werke der vergangenen zehn Jahre. »Straight« und »Sunflower Seeds«
stammen aus Ai Weiweis Zeit in China, wo er sich als prominenter Kritiker der
kommunistischen Partei hervortat. Im K21 bricht eine neue Phase an: Seit 2015
lebt und lehrt der Künstler im Berliner Exil – wenn er nicht gerade unterwegs
ist zu aktuellen Katastrophen-Schauplätzen. Denn seit seinem Umzug beschäftigt er
sich in Filmen und Fotos, in Skulpturen und Installationen intensiv mit der
europäischen Flüchtlingskrise. Einiges ist im Zusammenhang mit den Arbeiten zu
seinem Dokumentarfilm »Human Flow« entstanden und vieles davon kommt nun im
Ständehaus zusammen.
Kunst aus Jacken, Blusen, Jeans
Im Ausstellungssaal findet man sich umzingelt von Blusen und
Jeans, von Jacken, Shirts und Strampelanzügen. Ai Weiwei hat sie nach der Schließung
des überfüllten griechischen Flüchtlingslagers in Idomeni aus dem Müll gezogen,
nun reihen sie sich säuberlich sortiert an langen Kleiderstangen wie im
Kaufhaus oder Waschsalon. »Laundromat« heißt denn auch die Arbeit. Die Wände ringsum
sind von oben bis unten vollgeklebt mit Handyfotos aus 40 Lagern. Dazwischen, eher
befremdlich, Selfies vom Meister – als wolle er sagen »Ich war dabei« und das
Dokument als Kunstwerk adeln.
Um die Ecke laufen ein paar Videos, die Gefahr, Not und Chaos
dokumentieren – auf dem Meer und im Lager. Auch in Ai Weiweis Berliner
Großatelier wurde gedreht. Da sieht man etwa den Künstler, wie er die Hosen aus
Idomeni auf der Wäscheleine fürsorglich zurechtrückt. Ähnlich wie damals die im
Beben verbogenen Armierungseisen, haben Ai Weiwei und seine Helfer nun die
textilen Fundstücke gereinigt, geglättet, »geheilt«. Bevor sie im Kunstwerk
aufgingen, wurden sie so quasi vom Elend ihrer Träger befreit, was der
Installation etwas von ihren voyeuristischen Zügen nimmt. Trotzdem verstört das
Recycling der Flüchtlingskleider im Megakunstwerk und provoziert Fragen. Ob er sich
nicht am Leid der anderen bereichere? Ob diese Menschen gut heißen, wie er ihr Schicksal in Kunst ummünze. Ziemlich
entschieden tritt Ai Weiwei der Kritik entgegen. Schließlich sei er selbst ein
Flüchtling, habe Verfolgung erfahren, schon als Kind.
Kindheit im innerchinesischen Exil
Damit bringt Ai Weiwei einen Faktor ins Spiel, mit dem man
immer rechnen muss in seinem Werk – die eigene, von der Erfahrung des
politischen Konflikts und der staatlichen Repression geprägte Biografie: Der Vater
war als regimekritischer Dichter mit Schreibverbot und Verbannung belegt. Seine
komplette Kindheit und Jugend hatte Ai Weiwei mit der Familie im innerchinesischen
Exil verbracht.
Seither lehnt er sich auf. Er wolle den Verfolgten eine
Stimme geben – dafür hat er vieles auf sich genommen. Ai Weiwei wurde
überwacht, verfolgt, zusammengeschlagen. Wegen angeblicher Wirtschaftsdelikte
stand er in Peking vier Jahre unter Hausarrest, 81 Tage hat er in
Isolationshaft zugebracht und auch das eigene Drangsal in Kunst verwandelt. In
der Schau stehen sechs Eisenkisten und in ihrem Inneren hyperrealistische
Figuren, die Szenen aus seinem Gefängnisalltag nachstellen: immer wieder Ai
Weiwei beim Essen, Schlafen, Duschen stets bewacht von zwei Polizisten, die dicht
neben ihm stehen. Es hat etwas von Gaffen, wenn man von oben durch die kleinen
Fenster in die Kerkerkisten guckt.
Nach Haft und Arrest konnte Ai Weiwei 2015 ausreisen. Doch fühlt er sich – trotz Heine, Beuys und Gaensheimer – nicht immer wohl in seiner neuen Heimat Berlin. Zuletzt beklagte der Künstler etwa das mangelnde Interesse des deutschen Publikums an seinen neuen Arbeiten. Die Düsseldorfer Schau wird Ai Weiwei wohl aufmuntern – mit 8.000 Besucher am ersten Wochenende. Schon wieder eine Zahl, die nach Superlativ klingt.
Bis 1. September 2019; Kunstsammlung NRW, K20 und K21, Düsseldorf; Tel.: 0211/8381204; www.kunstsammlung.de