TEXT: ANDREAS WILINK
»Damals lebte sein Herz. Sehnsucht war darin und schwermütiger Neid und ein klein wenig Verachtung und eine ganze keusche Seligkeit.« Auch Claude Garcia ist, wie Thomas Manns Tonio Kröger, aus dessen Erzählung das Zitat stammt, ein Ausgesonderter und Besonderer. Der 16-Jährige sitzt in seiner Klasse am Lycée Gustave Flaubert in der letzten Reihe. Von dort sieht er alle, aber keiner sieht ihn. Im Französischunterricht von Monsieur Germain (Fabrice Luchini) ist er der einzig begabte Schüler unter solchen, die sich nur mit ihren Handys und dem Fernsehprogramm beschäftigen. Bei der Korrektur eines Aufsatzes zum Thema »Wie ich das Wochenende verbracht habe« wird Germain von Claudes Text derart überrascht, dass er ihn seiner Frau Jeanne (Kristin Scott Thomas) vorliest. Der Junge (Ernst Umhauer) schreibt, wie er die Nähe zu seinem Schulkameraden Rapha sucht und mit dem Angebot, ihm in der Mathematik zu helfen, sich in dessen Elternhaus einladen lässt, um dort seine Studien zu treiben. Ein Voyeur, der zu Papier bringt und ausspinnt, was er in dieser normalen Kleinfamilie beobachtet, die Ozon in einem hübschen Einfamilienhaus unterbringt, dessen umfriedetes Grün so unecht wirkt wie die Villa der »Acht Frauen«. Claude kommt aus dem sozialen Abseits. Sein Blick – gefühllos überlegen – seziert »die Wonnen der Gewöhnlichkeit«, um nochmals Thomas Mann zu bemühen, nicht ohne ihnen selbst ein wenig zu erliegen. Die bürgerliche Mittelklasse als hassgeliebter Ort, in dem der Eindruck von Idyll und kaltem Grausen sich mischen.
Germain erkennt Claudes Begabung, fördert ihn mit Einzelunterricht, leiht ihm Bücher, animiert ihn, die Geschichte der Familie von Rapha, dessen banal gutmütigem Vater Raphael und der unausgefüllten Mutter Esther (Emmanuelle Seigner) weiterzuverfolgen, wird gar zum Komplizen, Teilhaber und Lektor von Claudes Fantasie. Die Geschichte, die sich so in Fortsetzungen weiterschreibt, entfernt sich immer mehr von realen Vorkommnissen im Rapha-Haus hin zur Fiktion. Zum Spiel der Möglichkeiten. Und zur Obsession. In der literarisierenden Figurenanordnung spiegelt sich zudem das Beziehungsmuster des Ehepaars Germain und Jeanne. Zwischen allen Beteiligten changieren emotionale Bindungen und erotisches Begehren ins Uneindeutige: Vater, Mutter, Sohn, Bruder, Geliebter – wer sieht was in wem?
Was veranlasst den verführerischen Claude zu betören und zerstören? Was treibt den als Pädagogen angeödeten und verbitterten Germain an, bis es ihn ins existentielle Nichts bringt? Das Ungelebte! François Ozon ist ein (manchmal zu) kluger Filmemacher, der in seinem fabelhaft besetzten raffinierten Vexierspiel im Grenzbereich von Satire, Melodram, Thriller, Künstlerstudie und Erziehungsroman Motive von Musils »Törless«, Pasolinis »Teorema« und Heinrich Manns »Professor Unrat« mischt und zudem einmal mehr Fassbinders kalkulierte Machtapparate in Stellung bringt. Claude und Germain werden gemeinsam ein minder triviales Leben führen – ein romanhaftes.
»In ihrem Haus«; Regie: François Ozon; Darsteller: Fabrice Luchini, Kristin Scott Thomas, Emmanuelle Seigner, Ernst Umhauer, Denis Menochet; Frankreich 2012; 105 Min.; Start: 29. November 2012.