Das Motto, das Annie Ernaux ihrem Roman »Eine Frau« voransetzt – es stammt von Hegel – könnte auch über der Sammlung dieser Super-8-Filmbilder stehen: »Wenn man sagt, dass der Widerspruch nicht denkbar sei, so ist er vielmehr im Schmerz des Lebendigen sogar eine wirkliche Existenz«.
Ein »Wunschobjekt« ist die Kamera mit Ausrüstung, die sich Annie, Ehemann Philippe und die kleinen Söhne Eric und David anschaffen und die sie von 1972 an für ein Jahrzehnt begleitet. Ein theatralisches Happening-Gefühl habe die Aufnahmetechnik in die Familie gebracht und für diese bedeutet.
Sie seien »Neuankömmlinge in der Bourgeoisie« gewesen, wie Annie Ernaux nun als Erzählerin aus dem Off sagt, während ihre bei ihnen lebende Mutter in ihrem Küchenkittel mit den Interieurs kollidiere und sie so das Klassenbewusstsein und seine Schranken und Beschränkungen wach hält.
Was sich in den privaten Filmen zeigt, die hier kompiliert sind zu einer Art von Bildroman, ist das, was künftig in Ernaux’ Romanen (ihren »sozialen Reisen«) Konfliktlinien bildet, Positionen bestimmt, Milieugrenzen zeichnet und die soziale, kulturelle und psychische Entwicklung aus der elterlichen Arbeits- und aus ihrer Ehe-Welt miterzählt. Annie unterrichtet als Lehrerin in Annecy und empfindet sich als »heimlich gequälte Frau«, die das, was sie beschäftigt, dem Schreibpapier anvertraut.
Wir begleiten die Ernaux’ auf Urlaubsreisen: ans »Ende der Welt« in Allendes Chile mit seinem politischen und gesellschaftlichen Aufbruch, der Landreform und Industrieverstaatlichung. Für sie eine wesentliche Begegnung wie auch die gewaltsame Zerschlagung der konkreten Utopie durch Pinochets Militärjunta. Oder zu einer Ferienvisite an die Ardèche, wo eine Verwandte ein alternativ bäuerliches und ökologisch sauberes Leben erprobt. Nostalgie als Projekt der Zukunft: retour à la Nature. Oder für drei Wochen nach Marokko, wo ihre Beobachtungen zu Überlegungen führen, die im ganz Anderen auch das eigene Leben spiegeln.
Sie besuchen Bayreuth und die Wagner-Festspiele, während die RAF sich schon formiert hat und für Ernaux sich ihr Debüt als Autorin vorbereitet: »Ein Buch verändert nicht ein Leben, wie man es hofft und glaubt«, kommentiert sie. Es sind Zeiten des Umbruchs, auch mit der Wahl Giscard D’Estaings zum Präsidenten der Republik, später dann des Sozialisten Mitterrand.
1975 fahren sie ins eingebunkerte kommunistische Albanien, das sich wie das absolute Negativ zur westlichen »Dekadenz« zumal in der Hippie-Periode verhält, um den »Neuen Menschen« in der Isolation zu erschaffen. Bald danach geht es in das noch nicht so aufgetakelte London der Vor-Thatcher-Zeit, das Annie als 19-jähriges Au-pair-Mädchen bereits kennengelernt hatte.
Überall verspürt sie das Beben, das Gegenwärtiges, ob gut, ob schlecht, verändert, registriert sie historische Gewichte, Diskrepanzen, Konfliktzonen, Zerwürfnisse, Wechselströme zwischen Vergangenheit und Zukunft. In alpinen Wintersport-Szenen empfindet sie bei deren wiederkehrendem Ritual sich selbst als »Zuschauerin«, die ihrer Pflicht, sich zu vergnügen nachzukommen habe.
Versuch einer Familienfiktion
Zwischendurch wieder daheim, sommerliche Idyllik: blühende Bäume und Blumen, Gartenglück, Kinderlachen, heitere Tage bei den Schwiegereltern. Der Zuschauer fühlt sich erinnert an »Le bonheur«, den berühmten Film von Agnès Varda, der die stille Elegie eines Frauenlebens ist. Es folgen zwei Umzüge in die Nähe von Paris, wobei Annie für ihren Mann Philippe ein Grundgefühl von »Entwurzelung« diagnostiziert.
Annies Ernaux’ Familienalbum ist eine leise, unspektakulär präzise Bestandsaufnahme einer Zeit, ihrer Menschen und deren Veränderung, die für sie einen Moment von »Magie« besitzt, unterminiert von einer rumorend revoltierenden Bewegung, die diese »Gefrorene Frau« aus ihrem schon damals nicht stummen noch blinden noch tauben Zustand hinführt in die literarische Reflexion. Sie spricht von den Filmbildern als dem Versuch einer »Familienfiktion« und dem später hinzugefügten Subtext.
Die Reisen – zuletzt Korsika, Spanien, Portugal und Moskau – scheinen Fortbewegungen auch aus der Ehe zu sein: die Erfahrung einer allmählichen Entbindung der Ehepartner, die peu à peu an Wahrheit gewinnt. Sie sieht mit den Augen der Kamera »die Verknappung von Gesichtern und Körpern in den Bildern«. Die Familie bricht auseinander: Philippe nimmt die Kamera mit, aber er lässt die Erinnerungen (mit den Filmen) bei Annie und den Söhnen zurück, die sich erst viel später wieder mit dem, was war und was sie waren – mit dem Schmerz des Lebendigen eben – befassen können.
»Nur da, wo wir das Fragment sehen«, schreibt Thomas Bernhard in »Alte Meister« über unser Zeitalter, »ist es uns erträglich«.
»Die Super-8-Jahre« von Annie Ernaux und David Ernaux-Briot, Frankreich 2022,
62 Min. Start: 29. Dezember 2022