TEXT: ANDREJ KLAHN
Das Schweigen steht in dieser Familie der Lästermäuler und Quasselstrippen unter Verdacht. »Ein Tag ohne Sprechen gilt nicht«. So beginnt die Ich-Erzählerin in Annette Pehnts Roman »Chronik der Nähe« den ersten Eintrag ihrer sich über sieben Tage erstreckenden Aufzeichnung. Der Stille wohnt das Misstrauen inne. Es ruft in der Tochter Ängste hervor, vor Strafe und Verlust von Zuwendung, die von der Mutter ohnehin knapp bemessen wurde. Die erste und einzige Ohrfeige, so wird sie sich später erinnern, handelte sich das Kind ein, als es die Mutter um den Mittagsschlaf bringen wollte. »Mama, sag mal was, oder bist du zu faul zum Sprechen.«
Doch nun liegt die Mutter vor ihr im Krankenbett auf der Intensivstation, in einem Zustand, der kein Missdeuten mehr zulässt. Die Tochter sitzt neben einer Mutter, die keine Signale mehr aussendet, die Kinder als Abschätzigkeit oder Gleichgültigkeit interpretieren müssten – und doch ist dieses Verstummen viel herausfordernder, als es das »Strafschweigen« je war. Also beginnt die Tochter an ihrer Stelle zu sprechen und Rückschau zu halten auf das Leben der Töchter und Mütter, ihr eigenes, das ihrer Mutter Annie und das der Großmutter, einer Trümmerfrau.
Der »Abschied von den Eltern« erlebt in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur gerade eine kleine Renaissance: Arno Geiger und Tilmann Jens haben über ihre demenzkranken Väter geschrieben, Gerg Diez über das Sterben seine Mutter, um nur ein paar der Autoren zu nennen, und sie alle haben dafür nicht den Schutz der Fiktion für sich reklamiert. Annette Pehnt hingegen verortet sich – Kafka zitierend – weit über das Feld der belletristisch gefärbten Familiengeschichtsschreibung hinaus. Nicht Biografie wollen seine »selbstbiographischen Untersuchungen« sein, sondern »Auffindung möglichst kleinster Bestandteile«, aus denen sich Kafka, den Pehnt eingangs des Romans zitiert, sich selbst aufzubauen suchte, »so wie einer, dessen Haus unsicher ist, daneben ein sicheres aufbauen, womöglich aus dem Material des alten.« Auf die Gefahr hin, dass ihm am Ende die Kraft fehle, es zu Ende zu bringen.
Pehnts literarischer Bauplan ist raffiniert: Sie blendet das komplizierte Mutter-Tochter-Beziehungsgeflecht dreier Frauen-Generationen übereinander, schafft Korrespondenzen und Echos und verleiht ihrer Geschichte dadurch eine weit über das Privatistische hinausgehende Bedeutung. Das Verhältnis der Erzählerin zu ihrer im Sterben liegenden Mutter Annie – die Großmutter wird nur Mutter genannt, so dass sich die beiden Charaktere zunehmend ineinander verschieben – spiegelt sich in dem zwischen Annie und ihrer Mutter. Die klagenden Töchter sind eben immer auch angeklagte Mütter, die ihren Kindern mit dem nahenden eigenen Tod drohen und das Handwerk der emotionalen Erpressung perfekt beherrschen. Schuldgefühle und unausgesprochene Erwartungshaltungen gehören zur »Geschäftsgrundlage« des vererbbaren »family business«, in dem die Liebe der Mütter erarbeitet werden muss und mit der Reue der Töchter kalkuliert wird.
Gebrochen durch Skizzen vom Leben und Überleben der Großmutter und ihrer Tochter Annie in der Kriegs- und Nachkriegszeit, richtet sich die Ich-Erzählerin ein letztes Mal an die stumm daliegende Mutter, mal abrechnend, dann wieder nachsichtig gestimmt, verzweifelt über all das Nicht-Gesagte und die Unfähigkeit, es zur Sprache zu bringen in einer Familie, in der ein Tag ohne Sprechen doch nicht gilt. Diese gleichsam vorweggenommene Trauer ist wohltuend frei von Pathos, was keine geringe Leistung ist. Doch macht Annette Pehnt in der Nüchternheit des Tons immer auch die Melancholie hörbar, die diese »Chronik der Nähe« zu einem sehr feinen, anrührenden Buch über unüberbrückbare Distanzen macht.
Annette Pehnt: »Chronik der Nähe«. Roman, Piper Verlag, München 2012, 217 Seiten, 17,99 Euro