TEXT: ANDREAS WILINK
Filme nehmen in der sentimentalen Geschichte der Gesellschaft vorderen Rang ein, einen größeren als das Theater, das eher die Rolle des Aufklärers spielt und als Funktionsträger der Katharsis dient. Dies mag einer der Gründe dafür sein, dass die Bühnen zunehmend Filmstoffe adaptieren, zumal das kollektive Archiv der Erinnerung sie gut eingelagert hat und sie zudem häufig eine exzellente und effiziente Dramaturgie haben, die man in der Dramenliteratur wohl bei »Emilia Galotti«, »Don Carlos«, »Hedda Gabler« oder Yasmina Reza findet, aber kaum bei Juli Zeh oder Wolfram Lotz.
»Das Theater könnte wie ein Kind sein, das untrügerisch auf sich und die Welt vertraut, und sich dabei eben nichts von der Realität vormachen lässt, da es alles im Spielen wahr erkennt.« Schreibt der Dramaturg Bernd Stegemann in seiner Analyse »Kritik des Theaters«. Vielleicht kann in diesem Sinne das Theater bei der Kino-(De-)Konstruktion zum Spiel-Kind werden. Andererseits besteht die Gefahr der kulturellen Fälschung. Das Kind wäre dann ein verkleideter Erwachsener. Denn Filmen ist naturgemäß eingeschrieben, sich auf Filme zu beziehen, sich aufs Schönste im cineastischen Zirkel zu bewegen. Almodóvar ist darin Großmeister. Übertragen hieße das, wenn das Theater sich des Films bemächtigt, muss es ein eigenes, anderes Referenzsystem kreieren – sonst geht ein wesentlicher Lust-, Spiel- und Sinnfaktor verloren.
Drei NRW-Bühnen lassen sich im Verlauf ihrer Saison-Eröffnung auf vier Film-Stoffe ein: Köln bemächtigt sich »Dogville« (Regie: Bastian Kraft); Bochum balanciert »Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs« (Barbara Hauck) aus und tischt »Delikatessen« (Hans Dreher & Oliver Paolo Thomas) auf; Dortmund verarbeitet den »Minority Report« (Klaus Gehre).
DORTMUND
Die Zivilisation ist am Ende, betrachtet im Rückblick oder vorausschauend der Zukunft zugewandt. Die Menschen haben sich eingeigelt in einer pittoresk kannibalischen Endzeit oder leben in einer Enklave pervertierten Gemeinschaftssinnes, die den Puritanismus (»seine Lasten lieb gewinnen«) radikal zu Ende gedacht hat und die Lebensform des amerikanischen Provinzialismus akribisch nachstellt. Oder sie haben ein Modell totaler Kontrolle, Verbrechensverhinderung und Verwahrung entwickelt.
In »Minority Report«, in den 1950er Jahren geschrieben von Philip K. Dick und später verfilmt von Steven Spielberg, wird das Modell Präkognition mittels unberührbarer »Precogs«-Visionäre angewandt, die in halbwachem Zustand Morde voraussehen, so dass Einsatzkräfte das Verbrechen unterbinden können. Der Ort, an dem die Visionen Gestalt annehmen, heißt »der Tempel« – Hinweis auf christologisches Denken, das in fundamentalistischer Ausprägung auch im fiktiven »Dogville« des Lars von Trier gedeiht. Klaus Gehre, der Hollywood mag (»Gute Plots. Gute Konflikte. Gute Unterhaltung.«) zeigt in Dortmund Live-Film auf dem Theater: Das Video wird vor unseren Augen gedreht. Für ihn spannend, weil »die brechtsche Verfremdung mitläuft, somit die Brechung immer schon da ist, indem der Herstellungsprozess total offen liegt. Illusion und Illusionsbrechung parallel.«
An Un-Orten wie Dogville wirkt auch Pönalneid (die Sucht nach Bestrafung) als Trieb der Epoche und einer Opfergesellschaft, so der französische Schriftsteller Philippe Muray. Aber es gibt Fehler im System. Das forensische Prophylaxe-Programm, das sich auf aktuell diskutierte Kontroll-Bereiche, Big Data, Algorithmen und den NSA-Komplex ausweiten lässt, ist unvollständig, weshalb in »Minority Report« auch Schuberts unvollendete 7. Symphonie erklingt. Bleibt als Rest-Utopie, dass die Negativ-Utopie nicht zur Vollendung gelangt?
Ist es gut, um die Zukunft zu wissen? Klaus Gehre: »Der Grundimpuls sagt: um Gottes Willen. Wenn ich die Zukunft kenne, bin ich nicht mehr Mensch, weil nicht mehr frei und vorherbestimmt. Unsere Arbeitsthese nimmt das Gegenteil an. Das Wissen um die Zukunft raubt uns nicht die Freiheit, sondern gibt sie uns. Weil es uns reagieren lässt. Wir können uns dazu verhalten und deshalb die Zukunft wieder verändern. Ein bisschen wie beim Wetterbericht. Zu wissen, dass es morgen regnet, hilft bei der Kleiderwahl. In dem Beispiel kann ich zwar das Wetter noch nicht ändern, aber es gibt Fälle, wo solche Feedback-Schleifen einfließen.«
KÖLN
Amerika, zum zweiten. Grace, der Flüchtling, die Schutzbefohlene, Mildtätige, die Gnadenreiche, später Gnadenlose, erreicht »Dogville«. Von den Dörflern wird sie aufgenommen, ausgenutzt, erniedrigt und vergewaltigt. Die Leute von »Dogville«, US-Modellstadt für Bigotterie, religiösen Eifer, Kleingeist und Gemeinheit, haben schon allerlei deutsche Mundart angenommen. In Stuttgart etwa wurden sie 2005 bei Volker Lösch zu schwäbischen Erzeugern lokaler Produkte und Mentalität. Die Kölner Saison eröffnet Bastian Kraft – und beendet damit Stefan Bachmanns Ambition, ohne reihum gereichte (Jung-)Stars auszukommen.
Der 1980 geborene Angewandte Theaterwissenschaftler aus Gießen, reifegeprüft an Adressen in Zürich, Berlin (DT), Hamburg (Thalia) und Frankfurt am Main, überlegt mit Blick auf Triers Schablone: »Man will ja gern ein guter Mensch sein. ›Dogville‹ wirft mich darauf zurück, dass dieser Anspruch ohne Selbstgerechtigkeit kaum zu verfolgen ist. Da das Theater – gerade in der Brecht-Tradition, auf die von Trier sich bezieht – noch stärkeren moralischen Anspruch an sich stellt als das Kino, kann dieses Dilemma hier womöglich noch geschärft hervortreten.«
Kraft interessierte – u.a. bei Thomas Manns »Felix Krull«, in Schnitzlers »Traumnovelle« und beim »Talentierten Mister Ripley« – der Zwischenraum von Wahrheit und Lüge und die moralische Ambiguität. Jenseits von Gut und Böse.
Von Triers Film tut, als sei er Theater und zwar mehr Theater, als das Theater Theater sein will, überbietet dabei Brecht und sieht aus wie von Fritz Lang gemacht, der Striche auf den Studioboden markierte, um jeden Schritt der Schauspieler exakt vorzuzeichnen. Für den »Dogma«-tiker von Trier war es eine schon pathologisch zu nennende Volte gegen den Erzschurken Hollywood. Aber was soll das Theater mit dem Stoff, der nur in seiner feindseligen Künstlichkeit und Illusionslosigkeit, seinem Methoden-Wahn und seiner Lehrstückhaftigkeit Berechtigung und Logik hat?
Kraft: »Der Film bedient sich theatraler Elemente, ist aber alles andere als abgefilmtes Theater. Die Distanz, die durch die ästhetische Verfremdung entsteht, befördert den objektiv-moralischen Blick, während die subjektive Perspektive des Closeup-Kinos mich mit den Figuren verschmelzen lässt. Ich bin im Zwiespalt: Gehe ich mit den Figuren oder erhebe ich mich über sie? Wo stehe ich selbst in diesem Experiment? Unser Versuch besteht darin, ob der Stoff dem umgekehrten Weg standhält und wie er dadurch weiter gedacht werden kann. Auch, um die Minderwertigkeitskomplexe, die das Theater gegenüber dem Kino hat, neu zu überprüfen, ob diese beiden Genres sich eher befruchten könnten, als stets gegeneinander ausgespielt zu werden.«
Wäre zu wünschen, wenn Bastian Kraft das »Dogville«-Konstrukt in einer Mischung aus »Authentizitätsbegehren und Fiktionalitätsbewusstsein« (Ernst Osterkamp) stabil halten könnte.
BOCHUM
Jean-Pierre Jeunet gehört zum französischen Cinéma du Look, gleich den Kollegen Beineix, Carax und Besson. Regisseure, die für ein Kino stehen, das popkulturell inspiriert wurde von MTV und der Werbeästhetik, designt und trotzdem malerisch, mit einem naiven romantischen Kern und sehr französisch. Ihr Kino besinnt sich auf eine Vergangenheit vor der Nouvelle Vague, erinnernd an Marcel Carné, Jean Cocteau und Jules Verne. Der Filmtheoretiker Georg Seßlen nennt Jeunets Filme unverblümt »Kitsch«, aber Kitsch, bei dem man sich erwischen lassen darf. Realismus ist des Exzentrikers Jeunet Sache nicht. Die makabre Ausgangsidee von »Delikatessen«, die der Autodidakt Jeunet und sein Kollege Marc Caro gemeinsam entwickelten, beschreibt eine marode Welt, in der alle humanen Werte perdu sind. Die Handlung verzweigt sich in bizarre Episoden und Einfälle zwischen Surrealismus, Slapstick und Comic. So wird die dunkle Fabel ausgehebelt und mündet in einen sich selbst genügenden Zirkel von Bewegung, Rhythmus, Tönen, Farben und Assoziationen. Nicht zuletzt darin F. Scott Fitzgeralds Formel folgend: »action is character«.
In der Verbindung von Kunst, Kitsch & Retro findet sich der gangbare Weg von Jeunet zu Pedro Almodóvar. Aber bei dem Spanier sind es nicht vorrangig die Dekors, die Blüten treiben und sich im Wildwuchs verschlingen, bis kein Durchkommen mehr ist, sondern stets die Gefühle. Sie sind der absolutistische Herrscher im Reich des in diesem September 65 Jahre alt werdenden Regisseurs. Die schmerzgestählte Komödien-Farce »Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs« in der travestiehaften Nachfolge von George Cukor (ein Blick auf den Vorspann genügt) wurde 1988 Almodóvars erster großer internationaler Erfolg und für das Post-Franco-Spanien ein befreiender Impuls. Als Musical kam es in New York 2010 heraus und ist schon fleißig (etwa in Graz) nachgespielt worden.
Für den Feministen Almodóvar ist sein »Ideal einer Geschichte eine Frau, die sich in einer Krise befindet«. Das teilt er mit Fassbinder, der in seinen Frauen-Porträts eine luzide Analyse gesellschaftlicher Zustände entwickelte. Der äußerst funktionstüchtige, wenngleich im Vergleich zu »Alles über meine Mutter« oder »Volver« noch weniger gereifte Plot taugt fürs Theater allein schon durch die Einheit des Ortes: Pepas Wohnung. Im Apartment der Schauspielerin, die von ihrem Casanova-Geliebten Iván, einem spanischen Fellini-Mastroianni, verlassen wurde, finden sich bei speziell zubereiteter Gazpacho komische Leute zusammen: Pepas Freundin Candela, die die Polizei fürchtet, weil sich ihr Lover als schiitischer Terrorist entpuppt hat; Iváns Sohn Carlos und dessen Freundin Marisa, die sich für Pepa Wohnung interessieren; Iváns irre eifersüchtige Ehefrrau Lucia, die er – wie auch Pepa – mit seiner garstigen Anwältin betrügt. »Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs« endet übrigens mit dem Song »Puro Teatro«, gesungen von La Lupe. Wenn das Chaos produktiv ist wie bei Almodóvar und auch noch so farbenfroh leuchtet, zeigt es kindlich anarchische Züge. Hoffentlich ruft das Theater nicht zu sehr zur Ordnung.
»Dogville« am Schauspiel Köln (Depot 1), ab 5. September 2014, www.schauspielkoeln.de
»Minority Report – oder Mörder der Zukunft« im Theater Dortmund (Studio), ab 14. September 2014; www.theater.do.de
»Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs« und »Delikatessen« am Schauspielhaus bzw. in den Kammerspielen Bochum ab 26. bzw. 27. September 2014; www.schauspielhausbochum.de