Viele Regisseure lassen nach anstrengenden Proben gern Luft ab oder drehen die Adrenalin- Schraube mit Zigaretten und Wein mühsam nach unten. Willy Decker ist ein anderer Typ. Die Ruhe, mit der er nach Gedanken sucht, und der sanfte Ton seines Baritons haben etwas Hypnotisches. Wenn Decker sich Zeit für ein Gespräch nimmt, dann ist er wie eine Insel: konzentriert in seiner Argumentation, unbeirrbar durch scheppernde Bühnenarbeiten oder Transportlärm in der Gebläsehalle des Landschaftsparks Duisburg- Meiderich. Vielleicht liegt es daran, dass der Mann auch mit 57 Jahren und ergrautem Bart noch kein Intendant oder allerorts umtriebiger Theaterfunktionär geworden ist wie Jürgen Flimm, der Decker für die Eröffnungspremiere der RuhrTriennale 07 engagiert hat.
»Vissi d’arte« – der Kunst weiht er sein Leben, immer wenn er aus der Einöde der Eifel in die Metropolen kommt, wo er seit Jahren an ersten Häusern inszeniert: Hamburg, Berlin, Brüssel, Amsterdam, London, Wien, Salzburg. Und immer ist es ein Neuaufbruch, sich den Tiefenschichten eines Stücks zu widmen, ohne das Werk selbst »klein zu hacken«, wie es Decker als Professor für Musiktheater-Regie in Hamburg und Berlin oft beim Nachwuchs beobachtet. »An den Hochschulen gibt es heute fast keine Stücke mehr, sondern nur noch »Projekte« – ein Händel- Projekt oder ein Verkaufte-Braut-Projekt. Das erscheint mir manchmal wie eine political correctness. Viele Studenten verstecken sich in dieser Art von Pseudo-Experiment, weil sie gar nicht das Instrumentarium haben, um wirklich zu erzählen. Dabei geht so viel Substanz verloren. Ich versuche ihnen zu zeigen, dass man die Stücke nicht immer mit abgespreizten Fingern inszenieren muss. Es ist so wunderbar viel zu entdecken zwischen den Menschen.«
Auf eine nahezu keusche Art ist Decker das Kunstwerk Oper heilig. Deswegen splittert er es nicht in seine Bestandteile auf, implantiert keine medialen Fremdpartikel, lässt sich nicht auf platte Realismen oder oberflächliche politische Analysen ein. Der gebürtige Kölner, der am dortigen Opernhaus in den 80er/90er Jahren auch als Oberspielleiter amtierte, ist kein provokanter Regisseur wie Peter Konwitschny, Calixto Bieito oder Sebastian Baumgarten. In der Meisterschaft der Erzählung und Personenprofilierung ist er seinen Kollegen indes mindestens ebenbürtig. Die Konsequenz, mit der er seine Darsteller auf einen tragischen Charakter, eine schicksalhafte Beziehung, eine Selbstzerstörung zum Tode einschwört, liegt irgendwo zwischen der archaischen Wucht der antiken Tragödie und der abgründigen Trauer des Existenzialismus. Und stets ist sie getragen von der Liebe zu den Personen, die Decker auch als Regisseur bei der Probenarbeit mitbringt.
Selbst die Bühnenräume, die ihm sein Lieblings- Szenograf Wolfgang Gussmann baut, sind meist so anspielungs- und zeitlos wie ein Kinderbuch. Sie kommen mit wenigen Andeutungen von äußerer Umwelt aus und werfen gerade damit die Figuren radikal auf sich selbst. Oft sind es Durchgangsräume, die Menschen auf der Suche zeigen. Gigantische, schwindelerregend steile Treppen keilen sich in der frühen Inszenierung von Antonio Bibalos »Macbeth« für Oslo oder in der Hamburger »Salome« quer durch den Raum; extreme Bühnenschrägen zwingen die Darsteller, jeden Schritt als existenziellen Akt kurz vor dem Absturz zu empfinden. Schriftzeichen und Schraffuren an den Wänden künden von inneren Obsessionen (etwa beim »Don Giovanni«), überdimensionale Requisiten wie die ablaufende Uhr in der Salzburger »Traviata « 2005 machen die Darsteller zu Gefangenen ihrer eigenen Psychologie, zuweilen auf überdeutliche Art. Zumindest erkannten manche Kommentatoren in der vom Publikum umjubelten Verdi-Kameliendame mit dem Erfolgsgespann Netrebko-Villazón allzu festivaltaugliche Bühnenkost. Man habe ihm vorgeworfen, sagt Decker, »dass ich zu holzschnitthaft arbeite, zu verständlich sei – damit muss ich leben. Ich sehe bei mir selbst die Gefahr, dass ich immer klar sein will. Das ist auch gefährlich. Aber vielleicht bin ich jetzt an einem Punkt, wo ich auch Dinge offen lassen will, nicht immer an Überdeutlichkeit denke.«
Zumindest scheint das Werk, das sich Dekker für diese RuhrTriennale-Saison vorgenommen hat, sich aller Überdeutlichkeit magisch zu verschließen. Zwischen 1938 und 1941 komponierte der Genfer Komponist Frank Martin (1890–1974) eine Version des Tristan-Stoffes, die so mittelalterlich-sanft und traumverloren daher kommt, dass der Vergleich mit dem Liebesrasen und den Ekstasen bei Richard Wagner gar nicht erst aufkommt. Nach einem Buch des Mediävisten Joseph Bédier, der mehrere Überlieferungsstränge der Tristan-Sage vereinte, schuf Martin das Oratorium »Le vin herbé« (Der Zaubertrank) für zwölf Vokalsolisten und ein Ensemble aus Klavier und Streichseptett – eine seltsame Mischung aus barocker Historia und Debussys »Pelléas et Mélisande«. Für Decker eine Neuentdeckung: »Es ist ein streng kammermusikalisches Konzept von ganz eigener Tiefenfarbigkeit, wie ich es so nie erlebt habe. Natürlich gibt es viele inhaltliche Parallelen zu Wagner, vor allem in der radikalen Liebe, die nie zur Ruhe kommt, nie einen Höhepunkt finden kann. Der große Unterschied zu Wagner liegt im moralischen Motiv. Bei Martin stellen Tristan und Isolde fest, dass eine Liebe dieses Ausmaßes unmöglich ist, wenn auch nur ein Mensch – in diesem Fall König Marke – darunter leidet. Sich real lieben, das hieße: Marke zu zerstören, was aus der ritterlichen Vorstellung der Zeit für beide unmöglich ist. Also trennen sie sich und finden erst im Tod zueinander. Das ist in seiner Moralität wiederum ein radikaler Anspruch.«
In drei Teilen und schmuckloser, teils zwölftönig aufgerauter Strenge erzählt »Le vin herbé« von Tristans Brautwerbung, vom fatalen Trunk, der höfischen Treue, dem Abschwören der Liebe und dem gemeinsamen Liebestod. Es ist ein Werk, das nicht nach szenischer Umsetzung schreit (der Komponist selbst war mit den meisten Inszenierungen unzufrieden), aber doch den Reiz realer ritueller Handlungen offeriert. In der Gebläsehalle hat Wolfgang Gussmann einen runden, nach allen Seiten offenen Spielbezirk gebaut – auch das eine Novität für Decker. »Nachdem ich jetzt 30 Jahre in der konventionellen Form des Guckkastentheaters in den heiligen Opernhäusern inszeniert habe, finde ich es richtig befreiend, aus der fixen Perspektive herauszukommen. Hier erzwingt das der Raum – und plötzlich wird die Arbeit viel freier, auch im Anspruch. Ich fühle mich weniger aufgefordert, perfektionistisch zu sein. Es hat eher eine Werkstatt- Atmosphäre.«
Vielleicht sucht Willy Decker in letzter Zeit bewusst solche befreienden Arbeitsmöglichkeiten, die ihm mehr künstlerische Befriedigung verschaffen als der konventionelle Opernbetrieb. Vor zwei Jahren erlitt er bei der Arbeit an Mozarts »Idomeneo« an der Wiener Staatsoper einen Nervenzusammenbruch; dann gab es – mehr oder weniger einvernehmlich – Absagen bereits vereinbarter Regiearbeiten in Wien (»Moses und Aron«, »Boris Godunow«) und an der Komischen Oper Berlin (»Hoffmanns Erzählungen «). Das erinnert an Deckers spektakulären Verzicht auf Wagners »Lohengrin« für die Bayreuther Festspiele 1998, hat diesmal aber nicht nur »künstlerische Gründe«, wie es damals zur Begründung hieß. »Es gab im letzten Jahr ein echtes künstlerisches Tief – aber auch einen Punkt, wo ich keine Kompromisse mehr mit dem Betrieb machen wollte. Es ist oft schmerzhaft, sich auf Situationen einzulassen, in denen man nur einen Bruchteil seiner Leistungsfähigkeit geben kann. Das ist im Musiktheater eigentlich immer so. Es fängt mit Sängerbesetzungen an, schlechten Probenbedingungen. Dann gibt es Häuser, die gnadenlos ihren Betrieb durchhauen, in dem Neuproduktionen irgendwie mitkommen müssen. Wenn Oper heute überleben soll, brauchen wir einen hohen Anspruch an neue Produktionen. Dafür ist das Repertoire das ganz falsche System, weil die täglichen Zwänge zu groß sind. Man braucht Luft, Zeit, Konzentration, um wirklich starke Produktionen zu haben. Man braucht Freiraum für die Arbeit.« //
Frank Martin, »Le vin herbé«; Duisburg, Gebläsehalle im Landschaftspark Nord; Premiere: 2. September 2007, weitere Vorstellungen: 4., 6., 8. und 10. Sept., jeweils 20 Uhr; www.ruhrtriennale.de