Ein Schaben, ein leises Grollen; herabfallende Tropfen. Schienengeräusche, irgendetwas schlägt rhythmisch auf Metall, dann ein nachdrückliches Klingeln. Maschinenlärm, ein Sirenenhorn, schleifendes Kratzen, Quietschen. Die Geräusche überlagern sich, werden lauter, bis sie sich am Ende in der Stille verlieren. Es ist eine Sinfonie der Industrialisierung, kompiliert aus Richard Ortmanns Schallarchiv. Zu hören ist diese Soundschleife im orangefarbenen Treppenhaus des Ruhr Museums auf Zollverein. Dessen Überwältigungsarchitektur lenkt etwas von der Soundkulisse ab, wer sie in Ruhe nachhören möchte, für den hat Ortmann auf seiner Webseite eine YouTube-Datei verlinkt. Das Ruhr Museum ist nicht die einzige Institution, in der Sounds aus Ortmanns Archiv zu hören sind – auch die DASA in Dortmund, das Stadtmuseum Duisburg, das Hoesch-Museum, der Nordstern-Park und die Hattinger Henrichshütte sind Orte für die Ohren.
Das, was Ortmann macht, das Sammeln von Geräuschen und die klangliche Dokumentation des Ruhrgebiets, ist einzigartig. Schließlich ist das kein Ausbildungsberuf wie Industriekaufmann. Diesen Beruf hatte er zwar auch mal, hat sich aber ziemlich schnell in Richtung Musik, als Schlagwerker, Saxofonist und Komponist orientiert. Gründete Anfang der 80er Jahre die Blaskapelle »schwarz/rot Atemgold 09« – als freundlicher Seitenhieb auf die klassischen Kapellen. »Die spielten damals »Preußens Gloria«, sagt Ortmann lachend, »wir sind da lockerer, bringen afrikanische Melodien oder ziehen wie eine Marching-Band durch die Gegend«. Sie waren 2002 Teil der ersten Ruhrtriennale unter Gerard Mortier, traten dort mit einer Mischung aus Musik und Geräuschen in der Zeche Zweckel auf. »Ich habe mich als Musiker 1980 entschieden, im Ruhrgebiet zu bleiben«, sagt Ortmann. »Ich dachte, die 4,5 Millionen Menschen hier werden mich schon irgendwie ernähren. Da muss ich nicht nach Berlin oder London.«
Gut, dass er geblieben ist. Wer sonst wäre, mit dem Kopfhörer auf den Ohren und dem Mikrofon in der Hand, durch die noch laufende Schwerindustrie gestiefelt, um die Sounds der Arbeit und den Krach der Maschinen aufzuzeichnen, um diese für die Nachgeborenen zu erhalten? Angefangen hat das 1980, als er für den WDR Geräusche von kleinen Handwerksbetrieben besorgen sollte. »Ich bin dafür in die kleinen Firmen in den Hinterhöfen der Dortmunder Nordstadt gegangen. Dabei habe ich gemerkt, dass das nicht nur was für das Radio ist, sondern dass ich die Klänge auch zum Musikmachen verwenden kann, in Richtung der seriellen Musik.« Später kehrte er dorthin zurück, um ein kaputtes Geräusch neu aufzunehmen, musste aber feststellen, dass der Betrieb geschlossen worden war. »Ich bin Jahrgang 1955, das Zechensterben war schon damals, als ich zehn Jahre alt war, ein Thema bei uns am Mittagstisch«, sagt Ortmann. »Aber dann ging es auch den kleinen Zulieferern in den Innenstädten an den Kragen! Als diese speziellen Geräusche aus den Städten weniger wurden, da war für mich klar, dass ich das alles aufnehmen muss, bevor es verschwindet.«
Ortmann hat sich daraufhin bei den großen Firmen akkreditiert, um Zugang zu den Zechen und Stahlwerken, den »verbotenen Städten«, zu bekommen und war mitsamt seiner Ausrüstung unter und über Tage unterwegs. Das schwere Tonbandgerät über der Schulter, vier Tonbandspulen im Rucksack; nach 25 Minuten war eine Spule voll. Als die Audiokassette auf den Markt kam, wurde vieles einfacher und leichter. Heute arbeitet Ortmann digital mit Chipkarten und Festplatte. Insgesamt 5000 Minuten Material: Er hat den Sound und Lärm des Hoesch-Stahlwerks in Dortmund-Hörde aufgenommen, bevor es demontiert und bis zur letzten Schraube in China wieder aufgebaut wurde. An dessen Stelle plätschert heute sacht der Phoenix-See. Was für ein Kontrast! Ortmann war in den Werften des Duisburger Hafens, in der Blechstanzerei von Opel und lauschte den Dampfloks, Autobahnen und den Stahlwalzwerken, in denen »die Brammen reindonnerten«. Ihn interessiert aber nicht nur das Industrielle, um das Ruhrgebiet akustisch zu zeichnen, er sucht auch den Alltag der Menschen, um das Klangbild zu vervollständigen.
Ortmann hat mit Bewohnern der Zechensiedlungen gesprochen, deren Dialekte und Regiolekte aufgezeichnet; hat Männergesangsvereine, Taubenschläge, Schrebergärten, ein Kamelrennen auf der Pferderennbahn und den einzigen Ski-Lift des Reviers bei Hattingen auf Band. Für die Ausstellung »Der geteilte Himmel« besuchte er die Gottesdienste der Kirchen, Moscheen und Hindu-Tempel. Die Pommesbude von »Curry-Heini« in Waltrop hat er, mit dessen Einverständnis, für einen Tag komplett verkabelt. »Ich hab mich da während der Mittagszeit hingesetzt und das alles mitgeschnitten. Der Günni macht halt immer eine super Ruhrgebietsperformance beim Verkauf«, lacht Ortmann.
Für ihn sind Geräusche direkt mit Heimat verbunden. Er erzählt von der Dortmunder Kampstraße, die an einer Stelle eine steile Kurve macht, an der früher immer die Straßenbahnen lautstark vorbeischrammten. Wenn er heute älteren Mitbürgern den Krach vorspielt, erkennen die das sofort. »Die Ohren funktionieren immer mit, man weiß ja auch noch, welche Melodie beim ersten Kuss lief. Was uns ständig begleitet, das speichern wir ab.« Hat einer wie er, als Sammler, ein Lieblingsgeräusch? Eigentlich nicht, ist seine Antwort, das sei etwas anderes als bei Autos und Briefmarken.
Momentan klingelt sein Telefon öfter. Es ist das Jahr, in dem der Kohlebergbau endet. Das Radio meldet sich bei ihm, er bespielt Ausstellungen mit thematisch passenden Sounds, etwa jene aus der Schwerindustrie Oberschlesiens, die er auch im Archiv hat. Klingt das Ruhrgebiet durch den Strukturwandel heute anders? »Es ist stiller geworden, an den Schwerpunkten hat sich der Sound verändert. Da ist Ruhe im Schrebergarten«, so Ortmann. »Dafür hat jetzt gefühlt jeder Vorort seinen Flugplatz, und die Autobahnen werden auch langsam alle vierspurig. Das hört sich hier jetzt an wie überall. Das Spezielle, was die Region ausgemacht hat, das ist verschwunden.« Verbittert klingt Richard Ortmann deshalb nicht, eher pragmatisch, wie sich das für einen Ruhrgebietler gehört. Schließlich hat er das große Ganze mitgeschnitten, und wenn man die Augen schließt, ist es für einige Minuten alles wieder da. Sein Projekt ist noch lange nicht zu Ende, es wandelt sich einfach, wie das Land auch: »Wenn die letzte Zeche geschlossen hat, dann haben wir es hinter uns. Dann können wir vom Mythos leben.«