TEXT: INGO JUKNAT
»Irony is over.« (Jarvis Cocker)
»Corporate rebranding« nennt sich ein Werbezweig, der sich aus-schließlich mit der Reparatur ramponierter Firmen-Images beschäf-tigt. Einer der talentiertesten Menschen in diesem Bereich macht das Ganze noch nicht mal beruflich. Sein Name ist Stefan Raab, seine größte Leistung: der Eurovision Song Contest.
Selten sah man eine tot geglaubte Veranstaltung derart neu aufblü-hen. In der nationalen Euphorie um Lena Meyer-Landrut fällt es leicht zu vergessen, dass der Grand Prix noch vor zehn Jahren etwa so hip war wie das »Musikantenstadl« oder der »ZDF Sommergarten.« Seine große Zeit schien der Song Contest hinter sich zu haben. Die verblie-benen Zuschauer zerfielen in drei Gruppen: treue Anhänger des alten Grand Prix, die immer noch auf die neue France Gall oder die neuen ABBA warteten, ironische Gucker und schließlich die Schwulengemeinde, die im Grand Prix mit seiner dick aufgetragenen Pop-Folklore vor allem ein Fest des camp sah.
Von außen betrachtet, bot sich ein Bild der Stagnation: Für Deutschland traten Bands aus der Siegelschen Klonfabrik auf, die, wenn es gut lief, im unteren Tabellendrittel landeten. Und das trotz denkbar schwacher Konkurrenz. Selbst große Pop-Nationen wie England entsandten Mitte der 90er Jahre die dritte Garde. Zum Bedeutungsverlust des Song Contest trug – paradoxerweise – auch der Fall der Mauer bei. Manche Acts aus Osteuropa luden die Veranstaltung mit nervendem Nationalpathos auf und verkungelten »ethnisch korrekte« Punkte an ihre Nachbarn.
Kein Wunder, dass irgendwann die ersten Satire-Kandidaten auftauchten. Deutschland schickte die »singende Herrentorte« Guildo Horn, aus Finnland kam die grotesk verkleidete Metal-Band Lordi, aus Israel die transsexuelle Sängerin Dana International. Auch Stefan Raab ritt mit dem Beitrag »Wadde hadde dudde da« auf der Nonsense-Welle.
Ein paar Jahre später hatte er seine Meinung geändert. Ausgerechnet Raab, der Inbegriff des TV-Ironikers, nahm den Grand Prix plötzlich ernst. Mit »Unser Song für Oslo« stellte er eine Casting-Show auf die Beine, deren Niveau (erstaunlicherweise) weit über dem der Konkurrenz lag – von »Deutschland sucht den Superstar« bis zu »Popstars«. Das Ergebnis ist bekannt. Raab-Muse Lena Meyer-Landrut holte den Grand Prix nach 28 Jahren wieder nach Deutschland. Und plötzlich ist der Song Contest keine Nischenveranstaltung mehr, sondern Großereignis.
Einer, der von sich behaupten kann, dass er auf keiner Welle mitgeschwommen ist, heißt Dr. Michael Sonneck. Seit elf Jahren ist der hauptberufliche Arzt Vorsitzender des deutschen Song-Contest-Fanclubs. Jedes Jahr zum Finale nimmt er sich zwei Wochen frei und fährt zum jeweiligen Austragungsort – und sei es nach Kiew. In diesem Jahr hat er ein Heimspiel. Nach weniger Arbeit sieht es trotzdem nicht aus. 2000 Mitglieder aus befreundeten Fanclubs haben sich angemeldet. »Und die wollen bespaßt werden«, sagt Sonneck. Als Rahmenprogramm hat er unter anderem eine Flussfahrt auf der MS RheinFantasie organisiert, es geht vorbei an Duisburg, Düsseldorf und – natürlich – der Esprit Arena. »Nebenbei« berichtet er auf der Club-eigenen Homepage über den ESC, führt Interviews und beantwortet Presseanfragen.
Ärgert es ihn eigentlich, dass plötzlich alle auf den Grand-Prix-Zug aufspringen? »Nein, eigentlich nicht«, sagt Sonneck, »ich finde es nur ein bisschen schade, dass es überall nur ›Lena, Lena, Lena‹ heißt, als gäbe es keine anderen Kandidaten. Dieses Jahr nehmen 43 Länder teil – das ist doch grandios!«
Das findet auch die Stadt Düsseldorf. Selten hat sich die Landeshauptstadt so reingekniet in eine Sache. Der Eurovision Song Contest ist das Ereignis des Jahres – noch vor Karneval oder dem Japan-Tag. Mehr als 50 Termine finden in der Grand-Prix-Woche statt – vom Themenfrühstück im Flughafen-Hotel (mit aserbaidschanischen Blaubeerschnitten und armenischem Schoko-Nuss-Kuchen) bis zum Kinder-Song-Contest in der Tonhalle. Selbst die altehrwürdige Oper am Rhein hat das ESC-Fieber erfasst. Mit dem »Grand Prix de l’opéra« wird dort ein Medley aus den beliebtesten Arien und Duetten gegeben. Das Ganze ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Wunschkonzert – die Auswahl der Stücke konnten Opern-Fans vorab per Telefon-Voting bestimmen.
Ein paar Phänomene sind so wahrscheinlich nur in Düsseldorf möglich. Stichwort: Esprit Arena. Weil das Heimatstadion von Fortuna 95 wegen der Umbauarbeiten zum Song Contest vier Wochen lang belegt ist, hat der Verein kurzerhand ein Übergangsstadion für 20.000 Zuschauer gebaut. Ganze drei Spiele finden dort statt, dann wird das Provisorium wieder abgebaut. Kosten der Aktion: angeblich neun Millionen Euro. Dabei ist das neue Fortuna-Stadion nicht mal die einzige Übergangskonstruktion. Am Ende der Königsallee eröffnete kürzlich die »Lightbox«, eine Mischung aus Frisör, Beautysalon und Ausstellungsraum. Zur Eröffnung kam Karl Lagerfeld, der in dem zweistöckigen Kubus ein paar seiner Fotografien ausstellt.
In die Rubrik »Klotzen« gehört auch das »Mega-TV«, eine mehr als 6000 Quadratmeter große Projektion, die auf das denkmalgeschützte Dreischeibenhochhaus am Hofgarten geworfen wird. Als Public Viewing ist der Riesenfernseher zwar nicht gedacht, als größte animierte Werbefläche wird er aber auch so ins Guinness-Buch eingehen.
Nicht, dass das Rahmenprogramm zum Song Contest nur aus Kuriosa bestünde. So widmet das NRW-Forum dem Grand Prix eine historisch-musikalische Ausstellung. In der »Douze Points Lounge« (29.4. bis 15.5.) laufen Video-Clips aus 55 Jahren ESC-Geschichte, an den Wänden hängen die Plattencover sämtlicher Siegersongs. An drei Frei-tagen wird es außerdem DJ-Musik und Konzerte geben. Mit dabei: die Balalaika-Truppe eines fiktiven osteuropäischen Landes.
Gänzlich unfiktiv geht es in der Turbinenhalle der Düsseldorfer Stadtwerke zu. Kurz vor dem Song-Contest-Finale treffen sich am 11. Mai einige Pioniere der elektronischen Musik. Dazu gehören unter anderem Wolfgang Flür (Ex-Kraftwerk), Claudia Brücken von Propaganda und Paul Humphreys von der britischen Synthie-Band OMD.
Nur einer versagt sich wieder einmal. Peter Hein, Texter und Musiker der legendären Fehlfarben, tritt mit seiner Zweitband Family 5 am Grand-Prix-Abend auf. »Als wir das Konzert gebucht haben, wussten wir gar nicht, dass es am selben Tag wie der Song Contest stattfindet«, sagt Dirk Schewe von der Kunsthalle. »Aber so ist es auch okay. Jetzt machen wir das als Alternativ-Veranstaltung für alle, die mit dem Grand Prix nicht so viel anfangen können.«
Eurovision Song Contest, 14. Mai 2011, Esprit Arena, Düsseldorf. www.eurovision.tv. Eurovision Club Germany: www.ecgermany.de