Alle vier Jahre hat der Sonntagsspaziergang endlich wieder einen Sinn. Anstatt durch leere Einkaufsstraßen mit geschlossenen Geschäften zu schlendern, rufen Stadt oder Staat ihre Bürger*innen an die Wahlurne. Oder anders gesagt – ins Wahllokal. Wo dieses zu finden ist, entnehmen Interessierte ihrer Wahlbenachrichtigung, dort ist in gefühlt 8 Punkt winziger Schriftgröße vermerkt, welchen Weg man einzuschlagen habe.
In früheren Zeiten konnte man den Begriff Wahllokal wörtlich nehmen – nicht selten befand es sich in Eckkneipen oder gutbürgerlichen Restaurants, die beispielsweise »Haus Schnüffken« hießen. Das war durchaus praktisch, so konnte man, nachdem man im umgeräumten Jägersaal seine Stimme abgegeben hatte, auf dem Rückweg am Tresen hängenbleiben, um mit weiteren Frühschopper*innen die Politik, das Wetter oder den Sinn des Lebens zu verhandeln. Mit den Eckkneipen verschwanden auch die dort untergebrachten Wahllokale. Es gibt sie dort manchmal noch, hauptsächlich finden sie sich aber in Schulgebäuden, Seniorenheimen oder, bei der Direktwahl, in Räumen des Rathauses.
Wenn man so will, führt der Weg ins Wahllokal in die eigene Vergangenheit oder eben in die Zukunft. Gerade in Grundschulen wirkt die Welt zusammengeschrumpft, man kommt an kleinen Stühlen, niedrigen Garderobenhaken, aufgehängten Bastelarbeiten vorbei und riecht das Reinigungsmittel, das schon vor Jahrzehnten verwendet wurde. In Seniorenheimen kann es beim Weg zur Urne dazu kommen, dass man am Eingang von einer Riege munterer Senior*innen begrüßt wird, die sich freuen, dass endlich mal was los ist. Man folgt den Handläufen an den Flurwänden und erreicht sein Wahllokal.
Diese Räume sehen immer improvisiert aus. Eilig wurden im Morgengrauen von den Wahlhelfer*innen Tische und Stühle zusammengeschoben, die Wahlurne platziert, die klappbaren Wahlkabinen aufgestellt und die billigen Kugelschreiber angebunden. Als ob jemand die klapprigen Dinger klauen würde. Als Wähler*in bekommt man einen Wahlzettel ausgehändigt, ob dessen Länge man eigentlich einen Tapeziertisch benötigt. Den meisten Wähler*innen genügt das kurze Aufklappen über dem ersten Falz für das schnelle Kreuz; andere ziehen sich einen Stuhl heran, studieren ausführlich das Angebot bis hinunter zu den kleinsten Parteien, und wählen vielleicht »Die Beigen«, »Liste Kariert« oder gleich die »Judäische Volksfront«. Darauf folgt das korrekte, origamieske Zusammenfalten des Wahlzettels, was nicht nicht immer gelingt. Solange das Kreuz nicht zu sehen ist, darf man das Ganze aber auch als Papierwulst in die Urne quetschen. Diese ist meist aus trist-grauem Kunststoff gefertigt, in einigen Wahlbezirken kommen auch bunte Mülltonnen zum Einsatz.
In Pandemie-Zeiten wird sich nun einiges beim Wahlgang ändern. Man rechnet mit einem Anstieg der Briefwahlanträge, Senioren- oder Pflegeheime entfallen als Wahllokale, Abstand und Masken sind gefordert und die Wähler*innen werden gebeten, wegen der Hygiene ihren eigenen Stift mitzubringen. Vielleicht jenen, den man bei der Bundestagswahl 2005 geklaut hat.