TEXT: VOLKER K. BELGHAUS
»Bahnhofsuhr geklaut«, schlagzeilte kürzlich die Süddeutsche Zeitung – aber nicht, wie man vermuten würde, in den bunten Meldungen, sondern im Wirtschaftsteil. Hatte etwa ein angeschickerter Hedgefonds-Manager an der Frankfurter S-Bahn-Haltestelle »Riedstadt-Goddelau« einen entsprechenden Zeitmesser zur Verschönerung seines Partykellers stibitzt? Das nicht, denn es wurde virtuell geklaut: Apple hatte in seinem neuen iPad-Betriebssystem das klassische Bahnhofsuhren-Design der Schweizer Bundesbahn (SBB) unautorisiert für ein Uhren-Icon verwendet. Die SBB war davon wenig begeistert, ließ sich dann aber mit finanziellen Argumenten zu einer Einigung bewegen. Laut dem Zürcher Tages-Anzeiger soll der Computer-Konzern 20 Millionen Franken (rund 16,6 Millionen Euro) an die SBB gezahlt haben.
Die fühlte sich dann doch auch ein wenig gebauchpinselt, dass es gerade die Schweizer Bahnhofsuhr war, die widerrechtlich genutzt wurde. Ein SBB-Sprecher sagte dazu: »Das ist ein Beweis mehr dafür, dass sie ein echtes Designerstück ist.« Dieses Designerstück hängt nicht nur an deutschen und schweizerischen Bahnhöfen, sondern auch in verkleinerter Form als Armbanduhr an vielen Handgelenken und hat ihren Platz in der Sammlung des Museum of Modern Art in New York und der des Londoner Design Museum.
Man kommt nicht umhin, diesen Designklassiker ob seiner formalen Schönheit zeitlos zu nennen. Ein schwarz-weißes Zifferblatt, das anstelle von Zahlen international verständlich aus einfachen Strichmarkierungen besteht und von einem signalroten Sekundenzeiger umtickt wird – weniger Gestaltung geht eigentlich nicht.
1944 bekam der Schweizer Ingenieur Hans Hilfiker den Auftrag der SBB, die 8000 helvetischen Bahnhofsuhren visuell zu vereinheitlichen. Das wichtigste Element aber, der rote Sekundenzeiger, fehlte zunächst und wurde erst zehn Jahre später den Uhren hinzugefügt. Aufgrund seiner charakteristischen Form wurde er »Sekundenkelle« genannt; Hilfiker nahm sich die damals übliche Signalkelle der Abfertigungsbeamten zum Vorbild. Hilfikers Design wurde von vielen Ländern übernommen, nur der Sekundenzeiger wurde jeweils verändert. Die deutsche Version des Zeigers bildet im oberen Drittel einen Ring aus und kommt so dem Originalentwurf sehr nahe.
Schöner und präziser warten als unter der klassischen Bahnhofsuhr geht also nicht. Sei es auf die Bahn oder auf das Aktuelle Sportstudio, dessen Beginn der rote Zeiger zu den Bigband-Klängen Max Gregers seit Jahrzehnten im Sekundentakt herbeizittert. Und wer sich im Düsseldorfer Südpark unter die dort versammelten 24 Bahnhofsuhren stellt und sich wundert, dass kein Zug kommt – das ist Kunst von Klaus Rinke, der die synchron laufenden Zeitmesser als Installation »Zeitfeld« zur Bundesgartenschau 1987 in die Grünanlage pflanzte. Aufrecht stehen dort 23 Uhren, während eine auf dem Boden liegende »Mutteruhr« als Impulsgeber fungiert. 2004 wurde das Kunstwerk des Kunstakademie-Professors generalsaniert; jetzt empfängt es das DCF-Signal der Braunschweiger Atomuhr und ist somit auf gleicher Wellenlänge wie die Kollegen auf den Bahnsteigen.
Es gibt übrigens einen günstigeren Weg, an die Bahnhofsuhr zu kommen, ohne 20 Millionen Franken ausgeben zu müssen. Im Jahr 2004 wurde die Bahnhofsuhr in der Reihe »Designklassiker der Schweiz« als Briefmarke an die helvetischen Postämter ausgeliefert. Preis: Magere 85 Rappen.