Es gibt Momente, in den Thorsten Wilms die Welt auf den Kopf stellt. In denen er alles, was auch nur im Ansatz normal ist in seinem Leben, verleugnen kann. Das sind die Momente, in denen er Musik macht. Dann ist er jemand anders. Heißt nicht mehr Thorsten Wilms und kommt aus Leichlingen, sondern Rod Usher. Sieht aus wie eine Mischung aus Schauerfigur und Monster. Vampir und Zombie. Mit stechenden Augen, Weißbleiche im Gesicht, aufgeplatzten Lippen und hochstehenden Haaren. In diesen Momenten ist Thorsten Wilms geschminkt wie das, worüber er als Frontmann seiner Band The Other singt: wie das Böse. Der Horror. Und der Nervenkitzel.
The Other, gegründet vor 20 Jahren, bestehen neben Rod Usher noch aus Ben Crowe (Gitarre), Pat Laveau (Gitarre), Aaron Torn (Bass) und einem noch zu findenden, neuen Schlagzeuger, der den kürzlich ausgeschiedenen, blutrünstigen Trommel-Arzt Dr. Caligari ersetzen soll. Sie sind mittlerweile die erfolgreichste Horror-Punk-Band Europas, die schon durch die USA tourte und dreimal beim Wacken-Festival auftrat. Überhaupt sind sie Stammgäste bei vielen der großen Sommerfestivals, vom »Summerbreeze« und dem »Force Attack« über das »M’era Luna« und das »Amphi« bis hin zum Wave-Gothik-Treffen. Sie sammeln mit ihren Songs Hunderttausende Klicks bei Streaming-Diensten ein. Traten schon im Vorprogramm von Größen wie Alice Cooper auf. Und sind natürlich dicke mit dem deutschen Meister und Oberfan des Bösen in der Musik und (Comic-)Literatur, dem Die-Ärzte-Schlagzeuger Bela B.
Kurzum: The Other, benannt nach dem Begriff des übersinnlichen, unbewussten »Anderen« aus der Psychologie, haben das Böse zum Konzept und zur eigenen Erfolgsgeschichte gemacht. Und das alles, nachdem sie ursprünglich nur eine reine Coverband waren und als Ghouls – übersetzt »Böse Geister« – lediglich die Songs der amerikanischen Horror-Punk-Väter Misfits nachgespielt hatten.
Aber was ist nun so faszinierend daran, sich dem Bösen musikalisch zu widmen und damit sogar eine kleine, aber feine Erfolgsgeschichte mit bislang acht Alben – das aktuelle ist »The Haunted« – zu schreiben? Nicht nur einfach Punk-Rock zu spielen, sondern sich für jedes Konzert, jede Fotosession tief in die Mummenschanzkammer zu verziehen und als gruselig aussehende Horrorgestalten wieder herauszukommen, um dann Lieder über den Tod, Untote, Serienmörder, Blutsauger und Dämonen zu singen?
Thorsten Wilms alias Rod Usher – angelehnt an eine Figur aus dem Grusel-Universum des englischen Autors Edgar Allan Poe und dessen Buch »Der Untergang des Hauses Usher« – sagt: »Das Böse liefert Schockmomente. Und die bringen dich wiederum in Kontakt mit deiner Lebendigkeit.« Soll heißen: »Wenn du dich zu Tode erschreckst, dann weißt du, dass du noch lebst.« Ein Horrorfilm etwa sorge für die oft beschworene »Achterbahn der Gefühle«. »Aber wenn du nach dem Film wieder rausgehst aus dem Kino, dann weißt du wieder, dass das Leben gar nicht so schlimm ist.« Sprich: »Du lässt ein Stück Horror hinter dir.« Ein Stück Horror des Lebens.
Zudem übten Horrorgestalten eine unheimliche Faszination aus. »Sie können sich über alles – über alle Regeln – hinwegheben und werden dafür nicht zur Rechenschaft gezogen.« Einer wie Dracula mache das ja sogar »mit Gusto«: »Der beißt die Frauen über Jahrhunderte hinweg in den Hals und zelebriert das.« Und werde dafür, wie viele andere böse Gestalten, bewundert. »Viele Frauen träumen ja nicht umsonst davon, den – sagen wir – bösen Buben zu zähmen.« Das beste Beispiel: Das Mädchen Bella, das in den Vampir-Filmen der »Twilight – Biss zum Morgengrauen«-Reihe und den Büchern von Stephenie Meyer eine Romanze mit dem Untoten Jacob eingehe. »Da spielen Dominanz, Unterwerfung, Grenzüberschreitung eine Rolle«, sagt Thorsten Wilms. »Die Monster sind Projektionsflächen für das, was man selbst machen möchte.« Das sei mitunter ja auch bei Serienmördern so. »Wobei ich ehrlich bin und die Beschäftigung mit fiktiven Monstern wesentlich gesünder finde«, wie er lachend betont. Und cooler sowieso: »Das Aussehen des Pinhead aus Hellraiser mit seinem Latex- und Stachel-Look – das hat doch was!«
Er selbst wurde geprägt durch Horror-Filme und Bücher – allen voran die von Stephen King. Und durch die Musik – etwa die der US-Rockgruppe Kiss, deren Mitglieder um Sänger Gene Simmons Anfang der 80er Jahre die ersten waren, die »böse« geschminkt für Furore sorgten. »Mich hat diese Attitüde immer schon fasziniert.« Die Musik sei geradezu prädestiniert dafür, sich mit einem Thema wie dem Bösen und dessen Verkörperung, der Zügel- und Skrupellosigkeit zu beschäftigen.«. Rockstars seien ja seit jeher Übermenschen – nicht im Sinne von Nietzsche natürlich, wie Wilms betont. Sondern im Sinne von: übermächtig. Imstande dazu, alle Gesetze außer Kraft zu setzen.
Gene Simmons, Misfits, Alice Cooper, die derzeit weltweit unheimlich erfolgreichen schwedischen Glam-, Horror- und Okkult-Rocker Ghost als verkleidete neue Version von Black Sabbath: All sie machten sich diese Faszination des Bösen zunutze und verkörperten Fantasie-Figuren, die mit der Realität nichts zu tun hätten. Als Ghost-Frontmann Tobias Forge irgendwann einmal demaskiert worden wäre, habe er das »sehr schade« gefunden, sagt Thorsten Wilms. »Mir wäre es völlig egal gewesen, wenn ich nie gewusst hätte, wie er aussieht. Denn darum geht es ja: Diese – manchmal mehr, manchmal weniger bösen – Bühnenfiguren haben mit den schnöden Abgründen des menschlichen Lebens nichts zu tun.« Es gehe um Eskapismus, der da zelebriert werde.
»Wir wollen uns von diesen Geschöpfen mitnehmen lassen in eine Welt, in der die Fantasie eine Rolle spielt.«
Thorsten Wilms alias Rod Usher
Wenn er selbst auf der Bühne den Rod Usher gebe, »dann erwartet niemand von mir, dass ich wie ein normaler Mensch handle. Ich bin dann nicht mehr gebunden durch Konventionen«. Abgesehen davon, dass das Zur-Schau-Stellen des Bösen, der Mummenschanz und die Verkleidung allein schon aus rein praktischen Gründen mittlerweile absolut unverzichtbar für seine eigene Band sei: »Das Make-Up gehört dazu. Es gehört zu uns. Wir wären ohne es nicht da, wo wir sind.« The Other haben bereits Horror-Comics veröffentlicht, in denen die Grusel-Alter-Egos der Musiker die Hauptrolle spielen. Sie haben ein opulentes Horror-Hörspiel aufgenommen (»The Other und die Erben des Untergangs«). Und sie bescherten Köln vor Jahren die ersten Halloween-Partys – »und das zu einer Zeit, als sonst niemand überhaupt daran dachte«, sagt Thorsten Wilms. Nicht zu vergessen ist zudem das von ihm gegründete Plattenlabel »Fiend Force Records«, mit dem er jungen Bands des Genres ein Sprungbrett geben möchte und etwa die Gruppe Blitzkid aus den USA vor einigen Jahren zu internationaler Bekanntschaft verhalf. »Mein Traum ist es«, sagt er, »irgendwann eine Band vielleicht mal so groß wie die Misfits zu machen«. Ohne Verkleidung wäre ihr Erfolg nicht denkbar gewesen, ungeschminkt hätte kein Fernsehsender jemals über sie berichtet. Dem Bösen sein Dank.
Nächste Tour-Termine:
31. Oktober, Carlswerk Victoria, Köln
13. Januar, Fabrik, Coesfeld
11. Februar, Pitcher, Düsseldorf