Interview: Helga Meister
Er ist einer der wichtigsten Fotokünstler der Gegenwart, Absolvent der sogenannten »Düsseldorfer Schule«. Weltweit erfolgreich. Thomas Ruff, geboren 1958, ehemaliger Schüler von Bernd Becher, von 2000 bis 2006 dessen Nachfolger als Professor an der Kunstakademie Düsseldorf, gilt als großer Schweiger. Interviews sind Raritäten. Mit Helga Meister sprach der in Düsseldorf lebende Ruff über seine Studentenzeit und Lehrtätigkeit sowie über seine Arbeit – die Porträts, die Sterne nach vorhandenen Negativen und die »Nudes« nach Pornobildern. //
K.WEST: Herr Ruff, Sie studierten von 1977 bis 1985 bei Bernd Becher an der Kunstakademie Düsseldorf. Wie war das Verhältnis zu ihm?
RUFF: Man war befreundet und hat sich geduzt. Aber er war eine Respektperson.
K.WEST: Wie verlief der Unterricht bei Becher?
RUFF: In der Regel hat jeder seine eigenen Bilder gezeigt. Und wenn man bei ihm draußen in Kaiserswerth, daheim am Mühlenkamp war, hat er seine Bücher gezeigt, alte Sachen von Kollegen, nicht nur künstlerische Fotografie. Teilweise waren es auch Kupferstiche oder die Darstellung von technischen Geräten. Bernd Becher hatte keine schulische Auffassung vom Unterricht. Er hielt keine Vorträge, machte keine Kolloquien und keine Klassentreffen. Jeder war mit seiner Arbeit beschäftigt.
K.WEST: Ihre Art des Lehrens war, in der Nachfolge, ähnlich. Sie sagen auch nicht viel, brachten aber die Studenten zum Reden.
RUFF: Ich habe Fragen und Behauptungen in den Raum gestellt. Etwa die, ob das Bild warm oder kalt sei. Habe also Kategorien aufgestellt, die es gar nicht gibt. Ich habe der Klasse gesagt, dass sie ihr eigenes Bild finden müsse. Teilweise gab es Studenten, die fragten, was sie machen sollen, entweder, weil ihnen nichts eingefallen ist oder weil sie einfach wissen wollten, wie man das Foto hinkriegt, eventuell auch, wie man schnell berühmt wird. Darauf habe ich mich eben nicht eingelassen. Aus meiner eigenen Erfahrung habe ich ihnen vermittelt, dass es nicht nur eine Möglichkeit in der Fotografie gibt, sondern tausend verschiedene Möglichkeiten.
K.WEST: Sie sind eine Forschernatur als Künstler, auf der Suche nach dem »anderen Bild«. Hatte Ihr Elternhaus damit zu tun?
RUFF: Nein. Meine Mutter kommt vom Bauernhof, sie war Hausfrau. Mein Vater war technischer Leiter in einer Keramikfabrik. Sie sind beide gestorben.
K.WEST: Wie kamen Sie nach dem Studium, 1986, zum Düsseldorfer Fotolabor Grieger, um ein über zwei Meter hohes und 1,65 Meter breites Brustbild eines Porträts abziehen zu lassen? Hatten Sie etwas mit der Werbung und deren Großformaten zu tun?
RUFF: Nein. Zu Grieger kam ich, weil ich ab Mitte der 80er Jahre Farbnegative beziehungsweise große Farbdias, großformatige 9 x 12-Dias, fotografiert habe. Die hätte ich in der Akademie nicht entwickeln können, wo man nur für Schwarzweißaufnahmen ausgerüstet war. Bei Grieger konnte man die Farbnegative entwickeln lassen, die Negative der Porträts, die ja damals schon da waren. Es gab damals verschiedene Labors. Ich habe geguckt, wer zehn Pfennig billiger war. Ich wohnte zu dieser Zeit auf der Aachener Straße, Grieger lag auf dem Weg in die Akademie, gut erreichbar. Ich konnte mit dem Fahrrad vorbei fahren.
K.WEST: Die ersten großen Porträts entstanden 1986; die Diasec-Kaschierung kam 1987 dazu. Ihre Serie der Porträts bis 1991 war etwas völlig Neues für die Fotoszene. Sie intensivierten den Blick und den Ausdruck der Person anders als ein herkömmliches Format und forderten eine besondere Präsenz im Raum. Dennoch hatten Ihre Hochformate zunächst keine Auswirkung auf die Kollegen Andreas Gursky und Thomas Struth, die haben noch 1988 kleinformatig gearbeitet?
RUFF: Genau. 1986 hatte ich eine Ausstellung bei Philip Nelson in Villeurbanne, unweit von Lyon. Da zeigte ich zum ersten Mal die großen Porträts, noch ohne Kaschierung. Es waren auch schon Ausstellungen in der Mai 36 Galerie, die damals noch in Luzern saß, und bei Johnen und Schöttle in Köln geplant. Bei Nelson erkannte ich, dass ich die Fotos nicht wie Wachlappen an die Wand hängen kann, sondern dass sie fixiert werden müssen. Ich hatte sie einfach an die Wand gepinnt, wo sie sich jedoch wellten. Für die Folge-Ausstellungen ließ ich sie dann kaschieren.
Grieger hatte mir dafür Diasec vorgeschlagen.
K.WEST: Sie haben wirklich alles, was es an technischen Methoden und Kunsttheorien gab, in der Praxis Ihrer Bildherstellung vorweg genommen. Aus welchem Impuls heraus und mit welchem Resultat?
RUFF: Mit den großen Porträts ließ sich erfahren, dass eine Fotografie genau so eine bildnerische Konstruktion wie die Malerei ist. Sie unterliegt vollkommen der Kontrolle des Fotografen.
K.WEST: Die ersten digitalen Retuschen von Häusern entstanden 1987, für die Sie noch ins Labor Gwerder nach Zürich fahren mussten. Hat man die Veränderungen auf den Bildern überhaupt bemerkt? Und wie wurde darauf reagiert? War dieses Nachbessern nicht wider die Ehre der Sachfotografie?
RUFF: Ich habe die digitale Retusche beim Farbbild genommen, damit die Nachbesserung nicht sichtbar ist. Normalerweise hätte man bei Schwarz-weiß etwas drauf geklebt oder weggekratzt oder reingemalt. Das war damals die Retusche. Das erste retuschierte Haus wurde 1988 in einer Ausstellung mit Elke Denda und Michael van Ofen in Haus Esters/Haus Lange in Krefeld gezeigt. Man sprach darüber, dass an dem Haus ein paar Sachen weg waren. Bei der Eröffnung hieß es dann: »Der retuschiert«. Manche meinten, das dürfe man nicht; andere fanden es ganz toll, wie immer.
K.WEST: Hat Bernd Becher etwas dazu gesagt?
RUFF: Nein. Viel später habe ich mich mit seiner Frau Hilla darüber unterhalten. Ich hatte gehört, dass die beiden für ihre Industrie-Fotografie schon mal Sträucher weggehackt haben.
K.WEST: Weggehackt? Also das Bild an der Stelle manipuliert haben …
RUFF: Ja, sie sahen irgendwelche Hecken im Bild, die nicht wichtig waren, aber die halt störten. Und dann habe ich Hilla eben gesagt, dass bei mir ein Auto vor dem Haus stand und das habe ich weggemacht. Sie meinte: Klar, das kannst du machen. Du hättest genauso gut den Besitzer auffinden, bei ihm klingeln und ihn fragen können, ob er das Auto weg fährt, um die Aufnahme zu machen. Es sei nicht verwerflich, im Bild etwas wegzunehmen, wenn es für die Aufnahme Sinn macht.
K.WEST: Es kommt also auf die Wahrnehmung, weniger auf die Wahrheit an. Kommen wir zu den Sternen-Bildern von 1989 bis 1992. Das sind keine selbst gemachten Aufnahmen, sondern Aneignungen. Hat man das als Jux aufgefasst, dass da jemand einen Himmel präsentiert, den er nicht selbst abgelichtet hat?
RUFF: Jux? Die Idee war, einen schönen großformatigen Blick in den nächtlichen Himmel zu haben. Es sollte nicht der Blick des menschlichen Auges sein, man sollte näher herangehen können, um die Galaxien, Milchstraßen, Nebel wahrzunehmen. Die sieht man nicht mit dem bloßen Auge. Ich hatte mein Atelier unterm Dach in einer Sozialwohnung mit Klappdusche. Das erste, was ich mir dort einbauen ließ, war eine Badewanne. Wenn ich nachts in ihr saß und durch die Luke guckte, hatte ich den Himmel über mir. Dieses Bild wollte ich haben.
K.WEST: So perfekt wie möglich.
RUFF: Ja. Also habe ich überlegt, wie das herzustellen wäre? Weil ich eine fotografische Ausbildung hatte, wollte ich es zunächst selber machen, habe aber ziemlich schnell gemerkt, dass es technisch für mich nicht möglich war. Dann musste es eben jemand machen mit einer guten Ausrüstung. Das hat es mir später auch erleichtert, Bilder zu benutzen … Struth und Gursky machen ihre Fotos immer noch selber.
K.WEST: So kauften Sie die 1212 Kopien der Negative des Archivs des European Southern Observatory (ESO), also wissenschaftliche Aufnahmen des Sternenhimmels der gesamten südlichen Hemisphäre, und wählten 144 Ausschnitte aus. Ein mutiger Schritt, damals wie heute. Haben die Kollegen sich dazu geäußert?
RUFF: Meine Kollegen haben sich nie zu meinen Arbeiten geäußert. Sie haben weder gesagt, das ist gut oder das ist schlecht.
K.WEST: Es wurde behauptet, Sie hätten die Sterne verändert?
RUFF: Man konnte sich nicht vorstellen, dass jemand eine wissenschaftliche Aufnahme als Kunst präsentiert, ohne sie zu verändern. »Der will Künstler sein, also muss doch irgendetwas von seinem Ich darin sein.« Dabei habe ich einfach gesagt: Das Bild ist schön, ich nehme es als Kunst an.
K.WEST: In der Chronologie folgt die Serie der Nudes, 1999 bis 2004. Die synthetischen Farbe in Ihren sogenannten Porno-Bildern haben eine neue Schwerelosigkeit und Lichthaltigkeit.
RUFF: Bei den Nudes sind es ganz kleine Pixel, circa 1,5 Millimeter groß, Mini-Quadrate. Die habe ich so groß gelassen, damit man sieht, dass es Bilder aus der digitalen Welt und keine analogen Bilder sind. Jede digitale Retusche müsste Spuren hinterlassen.
K.WEST: Würden Sie bei Ihren Arbeiten vom Farbrauschen sprechen?
RUFF: Das nennt man so, weil Kamera oder Scanner es nicht schaffen, in dunklen Werten eine gleichmäßige Farbstruktur zu schaffen.
K.WEST: Sie haben doch an den Farben in den Nudes »gedreht«?
RUFF: Ja, um eine leichte Künstlichkeit zu erzeugen. Wenn man das digitale Bild vergrößert, kommt irgendwann das Pixel zum Vorschein.
K.WEST: Seit 2001 haben Sie Substrate entwickelt. Sind die abstrakten Farbbilder einfach aus dem Probieren, dem Überlagern verschiedenster Farb-fotografien entstanden? Das Ergebnis sind betörende Farbwirbel.
RUFF: Ich habe eine Serie Ludwig Mies van der Rohe, Titel »l.m.v.d.r.«, gemacht, sie war im Jahr 2000 in Krefeld zu sehen, darunter drei Innenaufnahmen von Haus Tugendhat, wo ich zwei oder drei Aufnahmen übereinander gelegt und die Farben so gedreht habe, dass sie unnatürlich wirken. Ich fand die Resultate ganz schön. Es wurde argumentiert, dass Mies van der Rohe keine bewusstseinserweiternden Drogen genommen habe. Aber er war Zigarrenraucher, und wenn er mal eine Zigarre inhaliert hat, hatte er auch einen Tabakflash. Fast wie eine durch Marihuana bewirkte Visualität. Bei mir waren es fotografische Abbildungen.
Ich merkte aber, dass die Überlagerung von Farben in der Fotografie nicht geht, weil dort die Farbabstufung schon derart fein ist, dass, wenn man fünf Arbeiten übereinander legt, im Prinzip eine graue Suppe herauskommt. Also habe ich es mit Quadraten und Kreisen gemacht, dann bleiben die Farben schön nebeneinander stehen. Wenn man Rot, Gelb und Grün nimmt und die Formen der Farbflächen nicht absolut kongruent sind, entsteht ein Farbwirbel. Da bin ich auf die Mangas gekommen, diese japanischen Comics sind auch quietsch-bunt. Wenn man sie im Computer übereinander legt und die Farben jeweils durchmultipliziert, bekommt man die psychedelischen Farbeffekte.
K.WEST: Was machen Sie derzeit? Es heißt, Sie würden mit dem Computer zeichnen?
RUFF (zeigt eine aktuelle Arbeit): Hier sind zwei Spiralen, die ineinander laufen. Mit etwas Mathematik stehen die Spiralen dann im Raum, man kann sie sich wie Skulpturen oder wie Drähte von allen Seiten angucken. Als sei es ein virtueller Norbert Kricke.
K.WEST: Sie wollen die Spiralen nicht ins Dreidimensionale zurückführen?
RUFF: Nein, Hilfsmittel ist ein 3-D-Programm, um diese Art von Zeichnung herzustellen. Man benutzt mathematische Formeln, gibt die Koordinaten ein, wie lang die Spiralen sein sollen, wie sie sich drehen, ob sie dick anfangen, wo sie aufhören etc. Mein Programm wird hauptsächlich für Spiel-Programme benutzt, als Animationschips.
K.WEST: Zielen Sie jetzt gar auf eine Bilderzeugung, die mit der Fotografie nichts mehr zu tun hat?
RUFF: (schweigt).